Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blutrot

Titel: Blutrot
Autoren: Jack Ketchum
Vom Netzwerk:
nur so ein Gefühl. Das genügte ihm.
    Er folgte der Schneise aus gequetschtem Unterholz und blieb immer wieder an einem der wenigen jungen Bäume stehen, die der Pick-up hatte stehen lassen. Nach einer Weile verspürte er ein merkwürdiges Gefühl, ein Kribbeln, das in seinem Rückgrat aufstieg. Seine Mutter hatte immer gesagt, es bedeute, dass jemand über sein Grab ging. Oder war es sein Vater gewesen?

    Sein Vater. Er lebte in einem Altenheim. Sein Name war Avery Allan Ludlow senior.
    Als er auf seine Füße hinabschaute, sah er im Laub die Waffe liegen.
    Es war, als hätte sie ihn gerufen.
    Wie er selbst gehörte auch die Waffe nicht hierher. Er fand es falsch, sie hier draußen liegen zu lassen.
    Bedächtig bückte er sich und hob sie auf. Er wischte die Blätter und den Schmutz ab und steckte sie umständlich in die Hosentasche. Als er sich wieder aufrichtete, durchzuckte ihn der Schmerz wie ein Blitzschlag.
    Es war finster, als er die Böschung erklommen hatte. Der Mondschein beleuchtete die Bäume neben ihm. Hinter ihm lag der dichte schwarze Wald, aus dem er gekommen war. Er starrte auf die Straße und fragte sich, in welche Richtung er gehen sollte.
    Da war etwas, was er tun musste, dachte er.
    Er setzte sich an eine Birke, um zu überlegen. Die Waffe beulte seine Hosentasche aus. Plötzlich kamen ihm die Tränen. Er wusste nicht, warum.
    Nach einer Weile schaute er auf und sah gegenüber auf der anderen Straßenseite im Gebüsch zwei funkelnde Augen. Sie wanderten hin und her, die Straße auf und ab, dann blieben sie an ihm hängen und starrten ihn an.
    Im nächsten Moment sah er die Augen vorsichtig näher kommen. Sie bewegten sich lebhafter durch das bebende Gestrüpp.

    Der Hund, der auf die Straße hinaustrat, war schon seit Langem nicht mehr richtig satt gewesen. Durch das räudige weiße Fell sah man seine Rippen und seine ausgemergelten Hinterläufe. Wahrscheinlich ein Farmhund mittleren Alters, eine Promenadenmischung mit einer guten Portion Beagle darin. Inzwischen fast schon wild geworden. Die Sorte Hund, die man bei jedem Wetter draußen ließ und die für sich selbst sorgen musste. Jetzt sah er, dass es ein Rüde war. Die großen Augen wirkten nicht feindselig, nur neugierig, weil Ludlow dort ganz allein saß.
    »Na, komm«, flüsterte er.
    Es klang sonderbar. Seine Stimme war ein heiseres Gurgeln, das er kaum wiedererkannte. Er schmeckte Blut im Mund und leckte sich über die aufgesprungenen Lippen.
    Die Nase des Hundes kräuselte sich. Er witterte ihn und dabei hielt er den Kopf ganz tief.
    »Ich tu dir nichts.«
    Der Hund hob den Kopf, sah ihn an und bellte. Der Ton schallte klar und hell durch die Stille. Er bellte noch einmal, dann wurde er still. In seinem Blick lag keinerlei Hoffnung in diese Begegnung, weil vermutlich keine seiner Begegnungen mit einem Menschen je zu etwas geführt hatten. Er wandte sich ab und lief zu den Büschen zurück. Eine Weile sah man ihn noch im Gestrüpp, dann war der Hund verschwunden.

    Ludlow saß da und lauschte der Stille, lauschte den Erinnerungsfetzen in seinem Inneren, die herumflatterten wie Buchseiten im Wind.
    Als er aufstand, wusste er, in welche Richtung er gehen musste.
    Er trat auf die Straße hinaus und schritt bergauf.

29
    Der Himmel war voller Sterne. Mitten drin ein heller Halbmond. Ein Janus-Mond, dachte er. Ein Halbmond ist ein Janus-Mond.
    Janus, der Gott der Tore, der Ein- und Ausgänge.
    Nach ihm war ein Monat benannt.
    Januar.
    Januar, Februar, Juni oder Juli.
    Scheine, oh, scheine, goldener Herbstmond.
    Droben am Firmament.
    Seltsam, woran er sich erinnerte.
    Im Krieg hatte er eines Abends einen nordkoreanischen Scharfschützen von einem Baum heruntergeschossen - er oder Phil DeAngelo. Sie hatten es nie herausgefunden. In jener Nacht hatten sie gemeinsam Wache geschoben und gleichzeitig geschossen.
    Am nächsten Morgen gingen sie los, um sich den Mann anzusehen.
    Was sie entdeckten, verblüffte sie. Die Kugel hatte anscheinend das Gewehr getroffen, nicht den Heckenschützen selbst. Die Waffe wurde ihm aus
den Händen gerissen, und er fiel hinterher. Er war auf das Gewehr gestürzt, das in dem Moment, als sie unten ankamen, nach oben zeigte. Der Lauf war vom Schaft abgebrochen und hatte sich durch seinen rechten Wadenmuskel und den linken Oberschenkel gebohrt. Es hatte den Mann aufgespießt wie einen Käfer auf dem Schaubrett eines Insektensammlers. Bei dem Sturz hatte er sich das Genick gebrochen, was ihn bewegungsunfähig machte.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher