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Blutrot

Titel: Blutrot
Autoren: Jack Ketchum
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anderen Leuten Schabernack trieb. Was er an diesem Tag tat, war typisch für ihn.
    Ludlow erinnerte sich, wie sehr er es - zu seiner Überraschung - genossen hatte, sich plötzlich auf dem Rücken dieses riesigen Pferdes zu befinden. Ihm gefiel die schiere Größe und der Moschusduft an seiner Hand, nachdem er die Stute getätschelt hatte oder ihr durch die Nackenhaare gefahren war. Das Gefühl der gewaltigen Muskelkraft unter sich, die augenblicklich seine eigene wurde, ein neu entdeckter
Teil von ihm. Er erinnerte sich, wie er auf der Stute saß und über den Hof zu den Feldern hinausblickte, in der Hoffnung, dass es dort hinausgehen würde. Dass sein Onkel sie aufs Feld führen und ihn ein bisschen reiten lassen würde.
    Stattdessen versetzte sein Onkel dem Pferd mit seiner großen schwieligen Hand einen kräftigen Schlag aufs Hinterteil und stieß einen lauten Schrei aus.
    Die Stute preschte los. Ludlow flog herunter und landete im Staub. Sein Onkel schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. Ludlows Mutter stürmte aus dem Haus und nannte seinen Onkel einen hirnkranken Hurensohn von einem Farmer. Danach sprachen die beiden monatelang nicht miteinander.
    Der Stute hatte Ludlow keine Schuld gegeben, nur dem Menschen.
    Als er älter war, ritt er immer wieder auf ihr.
    Er riss etwas Gras aus und hielt es den Pferden hin.
    Das gescheckte Tier sah ihn an. Es zögerte einen Moment, dann kam es zu ihm.
    Die langen Greiflippen nahmen das Gras. Die Stute erlaubte ihm, dass er ihren Schopf, ihre Wange und die kühle fleischige Nase berührte. Sie senkte den Kopf und ließ ihn mit der Hand ihre Nüstern umgreifen. Sie öffneten und schlossen sich, ein volles, tief tönendes Murmeln warmen Atems.
    Dann hob sie plötzlich den Kopf und schüttelte ihn irritiert. Ihre Mähne war ein Fächer aus fliegenden
dunklen Funken. Die weit aufgerissenen Augen starrten ihn wild an.
    Sie wich zurück, wandte sich um und kehrte zu ihren Artgenossen zurück. Aber sie schielte weiterhin vorsichtig zu ihm herüber und hatte offensichtlich das Interesse am Gras vor ihrer Nase verloren.
    Sie hatte etwas gewittert, dachte er.
    Etwas, das verletzt ist oder stirbt.
    War ich das ?
    Ein Mensch, aber kein ganzer Mensch mehr. Irgendetwas musste ihm abhandengekommen sein.
    Er dachte an den Hund an der Straße und hatte das Gefühl, dass die Tierwelt plötzlich vor ihm auf der Hut war. Als hätten seine offenen Wunden ihn den Tieren ähnlicher gemacht. Der Hund und das Pferd hatten das irgendwie gemerkt, hatten gespürt, dass er nun genauso verwundbar durch die Menschen war wie sie selbst.
    Er stieß sich vom Zaun ab und ging weiter.
    Als er schließlich die unbefestigte Straße und das zweite Waldstück erreichte, war der Mond hinter einer Wolkenbank verschwunden. Auch die Sterne verbargen sich fast vollständig dahinter. Er ging in der Mitte der Straße, um nicht über irgendetwas zu stolpern. Aber er war sich nie ganz sicher, ob er sich wirklich in der Straßenmitte oder wenigstens in ihrer Nähe befand, während er sich mit ausgestreckten Armen vorantastete. Unsicher, was ihm in dieser allumfassenden Dunkelheit begegnen würde.

    Als er zwölf war, hatten er und ein Freund in den Klippen am Meer eine Höhle entdeckt. Sie waren hinaufgeklettert, während unter ihnen die Wellen auf die Felsen krachten. Die Sonne schien in die Höhle hinein, und sie sahen, dass Tiere und Menschen dort gehaust hatten. Der Boden war übersät mit abgenagten Vogelund Wildknochen, Muschelschalen und Überresten von Krabben. An der Decke konnten sie sehen, wo der Rauch zahlloser Feuer den Fels mit Ruß bedeckt hatte.
    Dann sahen sie, dass sich rechts von ihnen eine zweite Höhle an die erste anschloss.
    Sie hatten keine Taschenlampe bei sich. Sie trugen Badehosen und hatten sich die Handtücher über die Schultern geschlungen. Sie standen am Eingang zur zweiten Höhle und versuchten, etwas zu erkennen. Sie starrten in einen Raum, in den noch niemals Tageslicht gedrungen war, seit die Höhle durch eine Verschiebung der Erdkruste entstanden war. Sie hielten die Arme ins Dunkel, und mit einem Mal waren ihre Arme verschwunden. Sosehr sie sich auch bemühten, sie sahen ihre Hände nicht mehr. Sie sahen weder den Boden noch die Decke oder die Höhlenwände an den Seiten.
    Nur tiefe Dunkelheit, so düster, dass sie fast das Auge betäubte.
    Ludlow fürchtete sich so sehr, wie er sich noch nie im Leben vor etwas gefürchtet hatte. Ihm schien, dass die Dunkelheit eine Warnung war, nicht
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