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Blutrot

Titel: Blutrot
Autoren: Jack Ketchum
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    Der alte Mann sah, wie der Hund ihn beobachtete, wie er seine Hände anstarrte, die den Haken zum orangefarbenen Schwanzende des braunen Plastikwurms schoben. Der alte Hund lag am Flussufer in einem Strahl spätnachmittäglichen Sonnenlichts, das zwischen den Bäumen hindurchfiel. Nach all der Zeit betrachtete der Gute ihn noch immer voller Neugier, und am Spannendsten fand er seine Hände.
    Es schien beinahe so, als wären die Fähigkeiten seiner Hände für den Hund das Einzige, was ihn als Geschöpf von seinem Besitzer unterschied, nur die Hände und nichts sonst.
    Der alte Mann hörte die Jungen, lange bevor er sie sah, genau wie der Hund. Er wusste, dass sie näher kamen und dass es mindestens zwei waren, die sich auf dem schmalen steinigen Pfad durch den Wald schlugen. Sie kamen von der Lichtung, wo sein Pick-up stand. Er und der Hund hatten denselben Weg genommen.

    Er hörte, wie ihre Schuhe über Erde und Steine schlurften, hörte das Knacken der Zweige über dem Vogelgezwitscher und dem Plätschern des gemächlich dahinfließenden Wassers. Der Hund stellte die Ohren auf und wandte seinen mächtigen zerzausten Kopf in Richtung der Geräusche, dann schaute er wieder zu dem alten Mann. Da dieser nichts sagte, seufzte er nur und legte sich wieder hin.
    Seit der Eisschmelze war der Fluss für den alten Mann überaus ertragreich gewesen. Aber jetzt, im Spätjuni, war es fast schon zu einfach. Er stand erst seit dreißig oder vierzig Minuten am Ufer, nicht länger, und er hatte bereits zwei der drei vom Gesetz zum Fang freigegebenen Fische gefangen, die nun kopflos und ausgenommen in der Kühlbox lagen, beides Vierpfünder.
    An dieser Stelle strömte der Fluss breit und tief dahin. Man brauchte sich nur einen Felsen, Baumstumpf oder einen umgestürzten Stamm auszusuchen - irgendetwas, hinter dem sich die Schwarzbarsche gern versteckten - und den Köder auszuwerfen. Dann zog man einige Male ruckartig an der Leine, sodass der Wurm durch das brauntrübe Wasser sauste und nach oben schoss, danach ließ man ihn wieder zum Grund gleiten. Heute reichten bereits drei oder vier solcher Versuche, ehe der Alte das sanfte Zupfen an der Angelleine spürte, das ihm verriet, dass der Fisch angebissen hatte. Wenn es so weit war, ließ er die Rute sinken, damit
die Leine schlaff wurde und der Barsch sich den Plastikwurm einverleiben konnte, den der alte Mann vorher mit seinem Speichel als Lockstoff präpariert hatte. Dann holte er die Leine behutsam ein. Wenn er sicher sein konnte, dass sie straff genug war, brachte er den Haken zum Einsatz, indem er die Rute schlagartig nach oben riss, sodass sich der Haken aus der Wurmattrappe löste und das Maul des Fisches durchbohrte.
    Auch der nächste Barsch würde ihm erbitterten Widerstand entgegensetzen, aber darauf würde sich der alte Mann nicht einlassen, jedenfalls nicht mehr als nötig, um den Fang einzuholen.
    Hier ging es um einen Fisch auf dem Teller und zwei im Gefrierschrank, um weiter nichts. Sein Geschmack an blutigen Sportarten war ihm irgendwann zwischen der Hochzeit seiner Tochter Alice und Marys Tod abhandengekommen.
    Aber ihm schmeckte das gute, feste, weiße Fleisch des Barsches. Und dem Hund schmeckte es auch. Obwohl der ja praktisch alles fraß, wie Mary einmal bemerkt hatte. Seit ihrem Tod hatte er festgestellt, dass seine Frau recht behalten sollte, so wie bei den meisten Dingen, über die zu reden sie sich bemüßigt hatte.
    Er sah, wie der Hund erneut den Kopf hob und mit der narbenübersäten schwarzen Nase Witterung aufnahm.
    Auch der alte Mann roch es, genau genommen sogar noch vor dem Hund. Der war schon lange
nicht mehr derselbe wie früher. Der alte Mann konnte immer noch den Welpen in ihm erkennen, so wie in sich selbst den kleinen Jungen. Aber inzwischen waren die Bewegungen des Hundes viel langsamer geworden, was vermutlich an einer beginnenden Arthritis lag. Auch seine Augen wurden immer trüber.
    Trotzdem steckte noch genug Leben in ihm, um Emma Siddons schwarzer Promenadenmischung nachzustellen, wann immer diese läufig war. Vor einer Woche erst hatte er ihn auf dem Feld hinterm Haus dabei beobachtet. Lächelnd hatte er zugeschaut, wie der Hund durch die Goldruten stürmte und die Bienen aufschreckte, als stünde er noch voll im Saft.
    Trotzdem roch der alte Mann es zuerst.
    Waffenöl.
    Ganz schwach wehte es auf seiner Windseite vom Pfad herüber.
    So riechen Amateure, dachte der alte Mann. Ein erfahrener Jäger hätte das Öl viel gründlicher
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