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Bluthochzeit in Prag

Bluthochzeit in Prag

Titel: Bluthochzeit in Prag
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Pilny zwischen den Zähnen. »Mein Gott, ruhig weiter … nur noch fünfzig Meter sind es! Behaltet die Nerven …«
    Muratow zeigte in diesem Augenblick, was ein Held aus Verzweiflung ist. Er blieb kurz stehen, drehte sich um und winkte mit dem linken Arm hinüber zu Turm 49.
    »Guten Morgen, Brüderchen«, konnte das heißen. »Seid wachsam wie die Hunde.« Oder: »Macht das Licht aus, Genossen. Seid ihr kurzsichtig? Hier gehen drei Soldaten der Roten Armee!«
    Der Leutnant auf Turm 49 war unschlüssig. Das Winken seines Offizierskameraden irritierte ihn. So benimmt sich ein Freund, dachte er. Aber ein Freund, der durch den Todesstreifen geht, muß angemeldet sein. Da gibt es keine Ausnahmen. Ordnung muß sein. Und was wollen sie hier an der Grenze? In zehn Minuten marschiert die normale Streife los.
    »Scheinwerfer bleibt!« befahl er zu Turm 50. »Alle MGs schußfertig. Es ist zum Kotzen, Genossen, aber was soll ich tun?«
    Er verließ den Turmraum und trat draußen an das Geländer. Die Hände legte er trichterförmig vor den Mund und brüllte dann über das nebelschwankende Land.
    »Stoj!« schrie er. »Stoj!«
    Muratow hob die Schultern, als ihn der Ruf erreichte. Für einen Russen ist ›Stoj‹ das erste Gebot in seiner Religion. ›Stoj‹ … das ist wie die Stimme Gottes, die da sagt am Jüngsten Tag: »Komm her und zeige deine Seele, du Verfluchter!«
    Stoj … das ist wie ein offenes Grab – wenn man nicht stehenbleibt.
    »Noch zwanzig Meter!« sagte Muratow rauh und laut. »Hören wir nicht auf ihn …«
    Ungerührt marschierten sie weiter, im Lichtfinger des Scheinwerfers, im Visier von vier Maschinengewehren auf den Türmen und zwei überschweren Automatiks auf dem Panzerspähwagen.
    Noch zehn Meter.
    Noch fünf.
    Der Zaun. Mein Gott – der Zaun! O lieber, lieber Gott … der Zaun!
    Wir stehen an ihm … wir heben die Pflöcke aus der Verankerung … nur noch drei Minuten, lieber Gott … nur noch drei Minuten …
    »Stoj!«
    Der Ruf flatterte zu ihnen hin und schlug auf sie ein wie ein Hieb. Pilny und Muratow sahen sich an. Beiden rann der Schweiß über die Augen, und sie machten sich nichts vor: Es war der kalte Schweiß der Angst.
    Im Lichte des Scheinwerfers ergriffen sie die dicken Holzstempel des Zaunes und hoben sie aus dem Boden. Es war schwerer als sie dachten, und sie erinnerten sich, daß es auch vier Russen gewesen waren, die den beweglichen Zaunteil hochstemmten.
    Sie keuchten, als sich das drei Meter breite Stück hob. Ihre Lungen schienen zu platzen, die Adern an den Hälsen schwollen an.
    Noch eine Minute … Gott im Himmel, schlage sie dort drüben für eine Minute mit Blindheit. Nur eine Minute, lieber Gott …
    Aber Gott war an diesem Morgen nicht im Böhmerwald.

XIX
    Auf Turm 49 stand der Leutnant noch immer an der hölzernen Rampe und beobachtete durch das Fernglas die Arbeit des sowjetischen Offizierskameraden und seiner beiden Soldaten. Es war ganz klar … sie öffneten das bewegliche Zaunstück, und daß sie dieses Geheimnis kannten, hinderte ihn daran, sofort den Feuerbefehl für die eingeschwenkten Maschinengewehre zu geben. Von Turm 50 rief der wachhabende Feldwebel ununterbrochen an und verstand anscheinend die Welt nicht mehr.
    »Westdeutsche Fahrzeuge nähern sich der Grenze«, meldete er. »Es sind außerplanmäßige Streifen. Wenn sie aus dem Wald kommen, werden sie das bewegliche Zaunstück sehen. Warum hält denn keiner die Idioten da vorn zurück? Was wollen sie überhaupt?«
    »Wenn ich das wüßte, würde ich mich als Hellseher im Staatszirkus melden«, fauchte der Leutnant draußen am Geländer. Er starrte auf den fremden Panzerleutnant und überlegte, ob er nicht doch schießen lassen sollte … Warnschüsse nur, über die Köpfe hinweg, damit die da drüben endlich merkten, daß sie sich ins Minenfeld zurückziehen müßten, bevor die deutschen Fahrzeuge eintrafen.
    Muratow und Pilny hatten das schwere Zaunstück zur Seite gedrückt. Ein schmaler Einschlupf entstand, gerade breit genug, sich hinüberzuzwängen in die Freiheit. Der Morgen zog mit einem silbernen Leuchten über den Himmel, der strahlende Finger des Scheinwerfers war sinnlos geworden, die Nebelschwaden wehten empor zu den Baumkronen.
    »Zuerst Irena –« keuchte Muratow und lehnte sich schwer atmend an den Drahtzaun. »Wir haben wertvolle Minuten verloren …«
    Irena Dolgan nickte. Sie rannte plötzlich los, warf sich durch die Lücke des Zaunes und fiel mit ausgebreiteten Armen in das Gras
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