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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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Maus Zeitung aufgetaucht, die keine Besitzerin zu haben schien. Frau Misera hatte nicht gezögert, in ihrer Eigenschaft als Leiterin eine Art Kriegsgericht einzuberufen, um herauszufinden, wer »diesen Schund eingeschleust« hatte. Das betreffende Mädchen kroch erst zu Kreuze, nachdem die Leiterin damit gedroht hatte, allen Kindern die diesjährige Adventfahrt nach Fulda zu versagen, wenn sich die Übeltäterin nicht binnen dreier Tage zu erkennen gebe. Es wurden sechs lange Wochen Stubenarrest über sie verhängt, und die Gemeinschaft hatte einen schneidigen Vortrag anzuhören, warum diese Art amerikanischer Unkultur junge Menschen verrohe und ihr sittliches ebenso wie ihr ästhetisches Empfinden
auf das Niveau von Negergesellschaften herabsinken lasse.
    Als Waltraut Knesebeck sich um die Stelle beworben hatte, war ihr klar, dass sie es nicht mit einem katholischen Provinzwaisenhaus zu tun hatte, ganz zu schweigen von einem der entsetzlichen Fürsorgeheime für »Unerziehbare« oder »erbkrankverdächtige Zöglinge«. Haus Ulmengrund war mit seinen sechzig Mädeln eine weltvergessene, fast klösterliche Oase, eine von sehr wenigen, die einzige vielleicht im ganzen Land.
    Das Haus hatte sich in Jahrzehnten einen unter Pädagogen guten Ruf geschaffen und ihn sogar über die Not der Weimarer Jahre hinweg erhalten können. Finanziert von rheinischen Industriellen, die im Hintergrund blieben, war das Haus seit Anfang des Jahrhunderts ein Sammelpunkt fortschrittlicher Erzieher und Reformer geworden, die der Auffassung waren, dass die Verwahrlosung verwaister Kinder nicht ausschließlich erblich bedingt sei. Damit war Haus Ulmengrund freilich immer ein exklusives Experiment geblieben. Durchaus zum Glück.
    Die Zukunft erschien Waltraut indes ungewiss. Man hörte dies, man hörte das, und wenn sie ehrlich war, machte sie sich seit ein paar Monaten Sorgen, ob die sich wandelnde Zeit nicht auch in Ulmengrund ihre Spuren hinterließ.
    »Unsere Welt verändert sich«, sagte sie vorsichtig. »Die Älteren von euch werden das selbst beobachten.«
    »Es gibt weniger Not, Fräulein Knesebeck«, sagte Hilde.
    »Und wieder Arbeit für alle«, fügte Friederike hinzu. »Das haben wir dem Führer zu verdanken.« Sie hatte ein kleines, spitzes Gesicht, eine piepsende Stimme und erinnerte Waltraut an ein putziges Tier mit Samtpfötchen und winzigen Ohren.

    »Jeder hofft, dass sich die Dinge zum Besseren wenden«, sagte Waltraut. »Überhaupt glaube ich fest, dass die meisten Menschen guten Willens sind. Jeder will das Glück finden, und es gibt viele Denker, die diese Meinung teilen würden …« Sie schaute zur Flurtür. »Nur würden manche Philosophen einwenden, dass die Menschen nicht immer gute Absichten hegen, sobald sie in Gruppen handeln.«
    »Dabei ist die Gemeinschaft doch das Wichtigste«, stellte Karin fest.
    Waltraut hätte ihr gerne recht gegeben. »Der einzelne Mensch ist vielleicht nicht immer derselbe, der er zu sein scheint.«
    »Das verstehe ich nicht, Fräulein Knesebeck«, sagte Friederike. »Und was hat das mit den eingeschlossenen Büchern zu tun?«
    Die Mädchen sahen sie an.
    Sie lächelte unsicher. »Wenn es so einfach zu erklären wäre …«
    Die hinteren Mädchen beugten sich neugierig vor, um Waltraut zuzuhören.
    Waltraut bereute es für einen Augenblick, sich in das Thema vorgewagt zu haben. Wieder schaute sie zum Flur, weiterhin zornig über ihre Angst, die Leiterin könnte hereinkommen. Es gab, wie Waltraut fand, einen dünnen Riss zwischen dem Ruf des Hauses und seiner jetzigen Führung. Aber der Spalt war so schwer auszumachen, dass es Vorkommnisse wie den Ärger wegen der Micky Maus Zeitung hatte geben müssen, um ihn sichtbar werden zu lassen.
    Sie sagte: »Jeder Mensch verändert sich und der Geist einer Gemeinschaft muss dem Rechnung tragen … Du zum Beispiel, Reni. Wer bist du?«

    »Ich bin ich, Fräulein Knesebeck.«
    Waltraut war gerührt von dieser Antwort. Sie merkte plötzlich, dass sie nicht mehr sicher war, was sie erklären wollte. »Entschuldige bitte, Reni. Ich wollte nur sagen, dass wir uns alle andauernd verändern. Aber es tut nicht immer gut, die eigene Veränderung wahrzunehmen.« Sie zögerte, weil sie jetzt merkte, dass die Mädchen nicht verstanden, was sie meinte. Eigentlich hatte Reni nur wissen wollen, ob es gefährlich sei, gewisse Bücher zu lesen. Und dann hatte sie, Waltraut, sich in die These verrannt, dass das Handeln der Gemeinschaft oder eines Volkes keineswegs
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