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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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auf dem breiten Korbstuhl in der Sonne saß und die Augen geschlossen hatte, empfand Waltraut Lust, an ihrem Haar zu riechen.
    Diese Gefühle waren heimlich und geheimnisvoll und tief in ihr verborgen. Reni durfte unter keinen Umständen auch nur das Geringste davon ahnen. Waltraut wurde zuweilen absichtlich ein bisschen streng mit ihr. Aber leicht fiel es ihr nicht. Reni war nicht nur schön, sondern auch gescheit; sie war eine gute Schülerin, hatte ein freundliches Benehmen, war hilfsbereit. Ein Engel eigentlich.

    Waltraut verließ ihr Zimmer. Im Speisesaal wurde gefrühstückt.
    Es waren einundsechzig Mädchen zwischen sieben und fünfzehn Jahren. Spätestens mit sechzehn verließen sie das Pensionat, arbeiteten in der Stadt als Dienstmagd, gingen auf eine Haushaltsschule oder nahmen an Feld- und Ernteeinsätzen teil.
    Die Mädchen flüsterten, klirrten mit den schweren, altweißen Tassen und Tellern und dem Besteck. Einige der Mädel waren Waisen. Auch Reni kannte ihre Eltern nicht. Aufgewachsen war sie bei einer Tante, bis zu deren Tod. Weitere Angehörige gab es nicht.
    Alle wussten, dass Reni gerne Rollen spielte, dass sie viel Fantasie hatte. Vielleicht zu viel Fantasie, das tut ja auch nicht gut. Waltraut ließ Reni nie aus den Augen. Sie war ihr Kind , wie eine Tochter.
    Waltraut betrat den Speisesaal. Die Mädchen grüßten sie. Sie war beliebt. Die Kinder mochten sie, weil sie von allen Erzieherinnen die freundlichste, geduldigste, die »modernste« war. Sie hatte einmal zufällig mitgehört, wie einige der Mädel das Wort über sie geflüstert hatten.
    »Guten Morgen. Und was gedenken die jungen Damen am heutigen Sonntag zu unternehmen?«, fragte sie quer über den Tisch, an dem Reni mit ihren Freundinnen saß.
    Friederike zog die Augenbrauen hoch und strich sich vornehm mit Zeige- und Mittelfinger über die Wange. »Wir geruhen zu lesen, Mademoiselle Knesebeck. Leider ist die Vorleserin außer Haus. Ach, nun ja, da muss man eben selbst einmal einen Blick in die Seiten tun, nicht wahr?«
    Alle lachten.
    »Und was werden Sie lesen?«

    »Oh, wir neigen zu Adalbert Stifter.«
    » Bunte Steine? «
    »Ich denke, ja«, sagte Friederike und prustete heraus. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und schüttelte den Kopf. »Nein, wie schrecklich! Stifter! Wie kann man nur so etwas lesen? Es ist langweilig und es passiert nie etwas Interessantes.«
    »Sei nicht ungerecht«, wandte Waltraut ein.
    Karin meldete sich. »Sie liest heimlich Stefan Zweig.«
    »Stimmt das, Friedel?«
    »Nachdem Karin mich verraten hat, kann ich es nicht mehr leugnen«, sagte Friederike. »Ist es unverzeihlich, Fräulein Knesebeck?«
    Waltraut lächelte. »Ich bin nicht sicher, ob Frau Misera davon begeistert wäre, wenn sie es erfahren würde.«
    Reni blickte vom anderen Tischende herüber. » Brennendes Geheimnis .«
    »Oh!«, machte Waltraut.
    »Und Monsieur Stendhal, De l’Amour «, fügte Reni mit ihrer warmen, weichen Stimme hinzu.
    »Sieh an, so gebildet sind wir also«, stellte Waltraut fest und schob erstaunt die Unterlippe vor. »Woher habt ihr solche Bücher?«
    »Wir haben sie gar nicht«, antwortete Reni und lächelte gespielt traurig. »Wir hätten sie aber gerne. Wir haben sie in der Schulbücherei gesehen, aber sie stehen wie Giftflaschen in einem verschlossenen Glasschrank.«
    »Aha.«
    »Wir möchten wissen, warum man sie vor uns verschließt«, sagte Karin. »Es ist doch interessant, dass sie verschlossen werden, oder?«

    Waltraut pflichtete ihr bei. Sie wusste nur nicht, wie sie erklären sollte, was zu erklären sich anbot.
    »Das Buch vom Doktor Schweitzer gehört am Ende auch dazu«, sagte Reni. »Glauben Sie, es ist gefährlich, diese Bücher zu lesen?«
    »Du denkst an Werther und die vielen jungen unglücklichen Leser, die ihm nacheiferten.« Waltraut liebte den Werther , aber auch Stefan Zweigs Erzählungen, in denen sich Menschen zu Gefühlen bekannten, die man für gefährlich halten konnte, die es womöglich waren, die aber dennoch als ehrliche, reine Empfindungen ihrem Herzen entsprangen.
    »Wenn man die Kindheit hinter sich lässt, ist vieles gefährlich«, sagte sie und ärgerte sich über ihre Feigheit. Anstatt stolz zu sein, dass die Mädchen sich ihr anvertrauten, wich sie aus und schielte nach der Flurtür, ob nicht die Pensionatsleiterin hereinkam und womöglich schon von draußen gehört hatte, worüber sie redeten.
    Was nicht ungefährlich wäre.
    Erst vor ein paar Wochen war eine Micky
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