Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
Vom Netzwerk:
zum Gipfel schoben. Oben stieg einer von ihnen in den offenen Sitz, legte sich die Gurte um und wurde von den anderen an zwei langen dehnbaren Seilen über die Wiese nach unten gezogen.
    Das Flugzeug rutschte übers Gras, wurde schneller und schneller und schließlich schwebte es. Es segelte, es flog! Das Seil fiel aus dem Haken, die »Gummihunde« ließen sich im Rennen fallen und blickten dem Flieger hinterher, der nun den Berg hinuntersegelte, ein paar flache Kurven flog und in der Tiefe, recht klein geworden, landete. Eine Flügelspitze kippte auf die Seite, und der Pilot kletterte heraus und winkte, bestimmt froh und stolz, dass alles heil geblieben war.
    Jockel war nun fünfzehn Jahre und damit alt genug, um mitzumachen. Aber er hatte keine Zeit. Die Schule und die Arbeit und der Vater sowieso! Dabei kannte er nur diese eine Sehnsucht. Von jeher schien ihm, dass er keine Arme, sondern Flügel hatte, und das Fliegen, Schweben, die stillen Vogelkreise waren wie ein Geist darin versteckt. Manchmal, wenn er, todmüde von der Feldarbeit, den Weg nach Hause lief, stieß er den hohen Raubvogelruf hervor und hatte Grund zu klagen, weil er wusste, dass ihn der strenge Vater niemals zu den Segelfliegern lassen würde.

    Jockel verstand die Eltern, die seinen Bruder Helmuth und ihn zwangen, bei der vielen Arbeit mitzuhelfen. Einerseits. Es ging nicht anders und war erforderlich, damit sie wohnen und essen konnten.
    Helmuth, der Ältere von ihnen, träumte davon, zur See zu fahren. Aber auch er durfte beim Essen nie darüber sprechen. Die Mutter hatte es verboten, weil sonst der Vater wütend wurde. »Wenn wir mal irgendwann Fleisch auf dem Teller haben, dann gibt’s dazu auch Flausen«, pflegte er zu sagen.
    Fleisch gab es fast nie. An Ostern ein Karnickel, Weihnachten ein Stück Geflügel. Der Bauer Schlömer war geizig und die Eltern waren nun mal seine Knechte; der Gutsherr, er war ein Graf, war vornehm und wechselte kein Wort mit dem Gesinde, wenn er im Monat einmal kam und nach dem Rechten sah. Er, Jockel, war sogar einmal von ihm getreten worden, weil er im Weg gestanden hatte.
    Die Arbeit war sehr hart. Die Familie stand wie alle Knechte und Mägde um fünf Uhr auf. Jockel half bis halb sieben in den Ställen mit, dann ging er nach Gersfeld in die Schule, kam mittags zurück, aß etwas, ging in die Felder oder schlug Holz klein, half den Knechten an der Bandsäge, brachte neue Zaunpfähle auf die Weiden, trieb das Milchvieh hinaus oder herein, mähte Gras, sammelte Fallobst an den Wegen und Chausseen oder ging der Bäuerin im Hausgarten zur Hand. Mit zwölf Jahren hatte er gelernt, Körbe zu flechten, und wusste längst, welche Handgriffe der Hufschmied von ihm verlangte, wenn er auf den Hof kam, um die Pferde zu beschlagen. Im Sommer wurde das Heu in die Scheunen gebracht, und Jockel musste darauf achten, dass am Ostgiebel ein schmaler Gang frei blieb und sich der Bauer nicht über sein Sitzbrett am Fenster ärgerte. Die Bäuerin
machte alle zwei Wochen Butter und Jockel kurbelte dann das Fass.
    Er war längst kein Kind mehr, nicht mal mehr ein Junge mit seinen fünfzehn Jahren, was die Statur betraf. Als Arbeitskraft war er den Erwachsenen fast ebenbürtig und damit unverzichtbar. Er war ganz und gar gefangen wie sein Bruder, gebunden an die Eltern und den Schlömerhof, an die bäuerliche Tätigkeit. Es gab für ihn keinen anderen Beruf.
    Im Frühjahr war er das letzte Mal aus der Schule gekommen und hatte ein gutes Zeugnis mitgebracht. Die Eltern hatten sich gefreut. Aber nicht über die Noten, sondern weil er nun den ganzen Tag mitarbeiten konnte, nicht nur am Nachmittag und in den Ferien.
    Der Vater des Vaters war Knecht gewesen und dessen Vater ebenfalls. Die Familie der Mutter dagegen stammte aus der Schweiz, aus einem entlegenen Tal. Dort floss anderes Blut. Die Mutter hatte Jockel von einem Onkel erzählt, der eigentlich Bergbauer gewesen war und außerdem ein Wirrkopf und Erfinder.
    In den Bergen lagen die Wiesen in höchsten Höhen und waren in Frühjahr und Herbst der Nässe wegen kaum erreichbar. Der Onkel habe getüftelt, geschreinert, geschmiedet, gebaut, so lange, bis ihm eine überaus nützliche Erfindung gelungen war, mit der er nach Zürich gereist sei, um sie beim Patentamt zu melden.
    Das sei 1914 gewesen, bei Ausbruch des Weltkriegs, und als die Patentbeamten die Erfindung sahen, hätten sie eine druckfrische Zeitung auf den Tisch gelegt. Darauf sah man englische Panzerfahrzeuge mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher