Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
Vom Netzwerk:
haben andere Namen als wir, du Dummerchen«, flüsterte Hilde. »Sie heißen Grießbrei, Kochlöffel oder Schnürsenkel, wusstest du das nicht?«
    Reni fuhr fort: »Mama ging auf Taschenmesser zu und fragte ihn: ›Wo hast du das Mikroskop versteckt?‹ Aber Taschenmesser
tat, als hätte er sie gar nicht verstanden. Dabei konnte man mit ihm reden fast wie mit einem Menschen …«
    »Wieso?«, fragte Karin aus dem Bett über ihr.
    »Weil er ein Schimpanse ist«, antwortete Reni und lachte leise. »Er klaut alles, was nicht niet- und nagelfest ist.«
    »Und warum heißt er Taschenmesser?«, murmelte Monika im Halbschlaf.
    Hilde lachte sie aus. »Na, weil er wahrscheinlich als Erstes ein Taschenmesser geklaut hat.«
    »Genau«, bestätigte Reni. »Nämlich das vom Doktor Schweitzer, als er das Urwaldspital vor dem Krieg gegründet hat.« Dann erzählte sie weiter. »Mama jagte Taschenmesser einfach aus der Reihe, in die er sich zusammen mit den anderen gestellt hatte, und folgte ihm. Prompt führte er sie zu einem kleinen Schuppen, wo Medikamente und Verbandszeug gelagert waren. Das Mikroskop thronte wie ein Wetterhahn oben auf dem Kistenturm.« Reni horchte, ob im Flur alles still blieb. »Papa untersuchte schnell das Blut des kranken Jungen und bereitete eine Medizin zu. Am nächsten Tag ging es ihm schon viel besser. Wenn mich meine Eltern an Weihnachten besuchen, werden sie Taschenmesser mitbringen, dann stelle ich ihn euch vor. Er gibt jedem die Hand und kann seinen Namen schreiben.«
    »Nein!«, rief Janka leise.
    »Doch!«, erwiderte Hilde. »Ich will auch, dass er seinen Namen schreiben kann, und die Eltern sollen wirklich herkommen und ihn mitbringen. Ja, bitte!«
    Reni schwieg.
    Es gab Augenblicke, in denen ihr die Erzählungen ganz nah und vollkommen wahr erschienen. Dabei wusste sie natürlich, dass alles erfunden war. Es gab keine Eltern, es hatte nur Tante
Magda gegeben. Und eines Morgens hatte die Tante reglos in ihrem Bett gelegen. Reni war genau einen Tag vor ihrem elften Geburtstag hier in Haus Ulmengrund eingetroffen, und niemand hatte am Folgetag an ihren Geburtstag denken können, weil sich Herr Kiank, der Hausmeister, frühmorgens ein Bein gebrochen hatte und die hellste Aufregung herrschte, bis er endlich ins Krankenhaus gebracht worden war.
    »Reni, erzähl weiter!«
    »Ja, gleich …«
    Sie hatte anfangs nicht viel geredet in Ulmengrund.
    Als Tante Magda gestorben war, hatte sie es nicht gleich verstanden und fest geglaubt, dass sie wieder aufwachen würde. Bis Mittag hatte sie die Zimmer und den Balkon sauber gemacht, dann war sie zu den Nachbarn gelaufen und hatte geklingelt. Aber dort war keiner. Also war sie zurückgegangen und hatte gewartet. Sie hatte Zwiebeln und Kartoffeln geschält und die Wäsche zusammengelegt. Tante Magda rührte sich noch immer nicht, und da hatte Reni verstanden, dass sie gestorben war. Sie hatte Angst bekommen.
    Als es draußen dämmrig wurde, ging sie wieder zu den Nachbarn, aber sie waren immer noch nicht da. Reni drehte den Schlafzimmerschlüssel um, setzte sich in die Küche und sah auf die Straße hinaus. Dort liefen Passanten vorbei, sie trugen Regenschirme. Ein Auto knatterte vorüber, dann polterte ein Pferdefuhrwerk, die Eisenräder schlugen auf das Pflaster. Eine Frau schob einen Kinderwagen. Die Angst fühlte sich jetzt an wie ein verschluckter Katzenkopfstein. Im Dunkeln traute sich Reni nicht mehr vor die Haustür. Sie war die ganze Nacht am Küchenfenster sitzen geblieben und hatte von Zeit zu Zeit zur Schlafzimmertür geguckt und gehorcht, ob irgendwas zu hören war.

    »Wir schlafen jetzt lieber«, sagte sie leise.
    Die Mädchen protestierten.
    Was für ein Unikum! , war Tante Magdas Lieblingsausruf gewesen. Sie sagte ihn, wenn sich eine besonders fette Fliege auf den frisch gebackenen Pflaumenkuchen setzte oder wenn der Mann von der Post ein dickes Paket an die Tür brachte, auf dessen Ankunft die Tante gewartet hatte. Aber sie hatte es auch gesagt, als sie und Reni zum ersten Mal die Stimme des Führers im Rundfunk gehört hatten. Da war Reni ihr ein bisschen böse gewesen. Heimlich. Voller Trotz und genauso heimlich hatte Reni von da an jede noch so kleine Fotografie des Führers aus der Zeitung ausgeschnitten und ganz hinten im Keller ein gutes Versteck dafür gefunden.
    Eine hübsche Sammlung von Führer-Zeitungsbildern war entstanden, die sie natürlich ins Pensionat mitgenommen und zwischen ihren Hemdchen und Leibchen verborgen hatte. Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher