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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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immer das Patentrezept war, mit dem eine Nation in eine bessere Zukunft marschiert – während ganz Deutschland momentan nichts anderes zu tun erklärte! Auch Frau Misera übrigens, als Leiterin von Haus Ulmengrund.
    Waltraut sah wieder flüchtig zum Flur. Mitten in ihre zunehmende Beklemmung hinein sagte Reni plötzlich: »Sie meinen bestimmt, dass jeder das ist, was er sein möchte oder was er glaubt zu sein.«
    Hilde kicherte, wurde aber gleich wieder ernst.
    Waltraut starrte Reni an und musste sich zwingen, den Blick zu senken. Sie war oft gefangen von der Schönheit dieses Mädchens und fragte sich zuweilen, ob die Gefühle falsch und übertrieben waren.
    Endlich sagte sie: »Ich hätte es nicht treffender sagen können, Reni. Vielleicht erfindet sich ja auch jeder ein bisschen selbst, wenn …«
    » Wenn was? «
    Waltraut fuhr herum.
    »Wenn was, Fräulein Knesebeck? … Ich höre.« Frau Misera war nicht durch den Flur in den Speisesaal gekommen,
sondern von der anderen Seite, aus der Küche. Sie lächelte auf ihre sonderbare Art. Ihre Stimme klang stets weinerlich; als Leiterin und Mensch war sie jedoch robust.
    Waltraut fühlte sich wie gelähmt. Und Frau Misera hörte nicht zu lächeln auf. Sie wartete auf eine Antwort. Waltraut wäre am liebsten hinausgelaufen.
    »Glauben Sie nicht, dass Sie die Kinder überfordern?«, fragte Frau Misera. »Ich möchte Sie sehr bitten, gewagte Betrachtungen wie diese in Zukunft zu vermeiden. Oder seien Sie konsequent.«
    Waltraut verstand nicht, was sie meinte, und sah sie fragend an.
    »Wenn man sich selbst erfindet «, fuhr die Misera fort, und der beißende Unterton war nicht zu überhören, »so etwas meinen Sie doch, nicht wahr? Wenn man sich selbst erfindet, muss man auch konsequent sein. Jeder hat bei solcher Freiheit auch die Pflicht, die sozialen Folgen dieses Eigensinns zu beachten.« Sie machte eine Pause, während der sie in die Gesichter der Mädchen blickte. »Die Gemeinschaft kann dabei verloren gehen, bitte bedenkt das! Wenn ich nur auf mich selbst schaue, verliere ich die Bindung zu den anderen.« Sie sah Waltraut an, wartete aber keine Reaktion ab, sondern fügte hinzu: »Nach dem Frühstück, meine Damen, gibt es Dienste in der Küche, vergesst das bitte nicht.« Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Speisesaal.
    »Entschuldigt, Kinder. Ich …« Waltraut flüchtete, ging der Misera nach. Ihre Augen brannten, und sie fühlte sich, als würde ihre Stimme gleich versagen.

Flausen im Kopf
    D er Schlömerhof lag eine halbe Fußstunde westlich der Wasserkuppe. Er gehörte zu den Ländereien von Gut Haardt. Der Besitz und seine Nutzflächen erstreckten sich von Maiersbach über Schwarzerden bis vor die Ausläufer des Rhöngipfels, dessen baumloser Saum vom winzigen Scheunengiebelfenster aus in der Ferne zu sehen war.
    Die Wasserkuppe war ein hoher, glatter Wiesenhelm, über dem sich der Himmel erhob, im Winter weißlich, im Sommer oft stahlblau. Dann konnte Jockel auch die Segelflieger sehen, vor allem wenn der Wind von Osten wehte. Es sah friedlich aus.
    Das Giebelfenster in der Scheune gehörte Jockel ganz allein. Er hatte sich vor Zeiten aus alten Brettern ein Gerüst gebaut, das breit genug war, um bequem darauf zu sitzen. Seine Knie berührten die raue Giebelwand, die Hände konnte er auf den von Spinnweben verzierten Rahmen legen. Der Wind sang und surrte durch die Ritzen, aber das störte überhaupt nicht, denn es war das gedämpfte Dröhnen der Motoren und die Erde lag tief unter ihm und das Fensterglas gehörte zur Kanzel seiner Fokker 36 .
    Er fragte sich, was passieren würde, wenn er »desertierte«, wenn er einfach weglief zu den Segelfliegern. Was würde der Vater tun? Würde er ihn suchen lassen und fast zu Tode prügeln? Denkbar war es.
    Wann er die Segelflieger das erste Mal gesehen hatte, wusste Jockel nicht. Sie waren schon immer dort gewesen und gehörten in den Himmel wie die Bussarde und Weihen,
die über den Feldern ohne einen Flügelschlag ihre lautlosen Kreise drehten und klagend zu ihm herunterriefen. Klagend, obwohl ihr schwebender Flug das Schönste war, das er sich vorstellen konnte.
    Als er noch nicht zur Schule ging und am Nachmittag in den Ställen und auf den Feldern bis in den Abend hatte mitarbeiten müssen, war er tausendmal alleine nach Schwarzerden und weiter gelaufen, hatte den Hang erklommen, sich ins Gras gesetzt und zugesehen, wie die älteren Jungen der Flugschule ihre Schulgleiter aus dem Tal die Wiese hinauf bis
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