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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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Bilder sollte niemand sehen. Manchmal, bis vor einiger Zeit jedenfalls, hatte sie Kopfschmerzen vorgetäuscht, sich zurückgezogen und die Schachtel aus dem Versteck geholt. Dann hatte sie den Führer, diesen stolzen, großen Mann mit seinem vogelscharfen Blick, betrachtet und geträumt.
    Ihn und Doktor Schweitzer bewunderte sie von allen Menschen am meisten und wusste, dass die Welt gut und friedlich wäre, wenn es nur reine, schöne Seelen wie die ihren gäbe. Sie glaubte nicht, dass die meisten Menschen guten Willens waren, so wie Fräulein Knesebeck es tat. Einmal hatte sie Herrn Kiank, den Hausmeister, beobachtet, wie er eine Katze quälte, und eine Erzieherin (sie war mittlerweile nicht mehr im Hause) hatte einmal eines der Mädchen gezwungen, morgens im Schlafsaal vor allen anderen einzugestehen, dass
sie »ein abscheuliches Ferkel« sei. Den Grund für die Bestrafung hatte Reni nicht erfahren.
    Oder der Herr Graf, der Besitzer von Gut Haardt, dem auch die Gebäude von Haus Ulmengrund gehörten … Man erzählte sich, er habe den krummen Dietrich aus Abtsroda, als der ein Kind gewesen war, mit einer Reitgerte so geschlagen, dass er kaum mehr laufen konnte. Es gab so viele böse Menschen; war es da nicht dringend nötig, sich Vorbilder zu wählen, die den armen Negern in den Urwäldern Afrikas halfen oder das ganze deutsche Volk endlich aus Hunger, Not und Elend führten?
    Die Arbeiten, die Reni in der Schneiderei von Tante Magda hatte verrichten müssen, waren nicht schwer gewesen. Kleider zusammenlegen, Knöpfe annähen, Stoffrollen sortieren, ausfegen. Später bereitete sie das Wasserbad für die Henkelmänner der Näherinnen vor, und seit sie acht Jahre alt geworden war, hatte sie frühmorgens vor der Schule in der kleinen Werkstatt den Ofen angemacht. Mit neun lehrte die Tante sie das Zuschneiden und Reni war darin sehr geschickt. Die Scheren waren zwar viel zu groß für ihre Hände, und sie hatte anfänglich Blasen, aber das Schneidern gefiel ihr besser als die Schulaufgaben. Sie trauerte der Schneiderei genauso nach wie der Tante selbst, die ihre Mutter hätte sein oder wenigstens so tun können, wenn sie nicht immer wieder darauf bestanden hätte, dass sie es nicht war und Reni sich dahingehend bitte keine Illusionen machen dürfe.
    Was für eine Tante war sie denn aber gewesen? Die Schwester des Vaters? Oder der Mutter? Oder nur eine Freundin oder gar Bekannte, die irgendwann den kindlichen Ehrentitel erhalten hatte? Tante Magda hatte das Geheimnis mit ins Grab genommen, und es stellte sich heraus, dass diese Ungewissheit
als eine tiefe Verletzung in Renis Seele zurückgeblieben war. Nichts über ihre Herkunft zu wissen, tat ihr weh.
    »Bist du noch wach, Fräulein Anstorm?«, fragte Friederike leise.
    »Ja.«
    »Ich kann nicht einschlafen. Mir geht die ganze Welt durch den Schädel … Hast du das auch gemerkt, das Gewitter zwischen der Knesebeck und der Misera?«
    »Sie hat mir leidgetan«, flüsterte Reni.
    »Wenn die Knesebeck geht, haue ich ab.«
    »Wohin?«
    »Egal.«
    »Darüber musst du dir jetzt Gedanken machen, nicht wenn es zu spät ist«, sagte Reni. »Wenn ich abhauen würde, wüsste ich genau, wo ich unterkommen könnte.«
    »Und?«, fragte Friederike.
    »Ich will ja nicht abhauen.«
    »Feigling.«
    »Selber Feigling.« Sie kicherten kaum hörbar. Die anderen waren eingeschlafen.
    Tante Magda hatte Reni für ihre Arbeit in Form von Liebe und Büchern entschädigt, die sie aus der winzigen Leihbücherei einer Nachbarin mitnahm, wenn sie vom Kleiderholen und -bringen nach Hause kam.
    Reni mochte die langen, dunklen Reihen der speckigen, schief gelesenen Romane mit Titeln wie Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Aus Wald und Heide . Am Abend, wenn auf dem Herd das Wasser summte, saßen die Tante und sie still beieinander, lasen die Romane, manchmal sogar Rolf Torring’s Abenteuer oder andere Schmöker, blickten in vergangene Intrigen, Verschwörungen und Schlachten. »Tante«, hatte sie einmal gesagt.
»Wir kommen aus der Ewigkeit.« Die Tante nickte und erwiderte: »Und gehen in die Ewigkeit.«
    In Reni gab es vage Erinnerungen an eine andere Wohnung als die der Tante. Ihre frühesten Eindrücke umrissen nur wenige Dinge: eine rötliche, mit Stroh gefüllte Stoffpuppe, die sie, wie die Tante behauptet hatte, irgendwann vollständig aufgegessen hätte; es seien nur noch ein paar Strohkrümel übrig geblieben. (Wo aber hatte sich die Spielzeugtragödie zugetragen, bei den Eltern noch oder
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