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Bluescreen

Bluescreen

Titel: Bluescreen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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Ebene, auf der wir einen dramatischen Niedergang der Sprache erleben mussten, wurden ihre Reichtümer verwahrt und gemehrt, allerdings auf der anderen Seite jener roten Linien, mit denen weiße Immobilienmakler und Stadtentwickler die Schwarzen und die Weißen voneinander fernhalten. All die alten amerikanischen Wörter wurden in den heruntergekommenen Reihenhäusern und Sozialsiedlungen gesammelt. Einmal mehr sieht man, zu welchen kreativen, ja genialen Leistungen die Menschen in der Lage sind, wenn man sie ignoriert und alleine lässt.
    Meine Großmutter sprach zu Hause ein amerikanisches Englisch voller Anspielungen, Zitate, Witze, Formeln und Begriffe, die sie aus dem Jiddisch ihrer Kindertage, aus dem Spanglischen oder Frenglischen entlehnt, aus der Populärkultur übernommen oder auf der Straße aufgeschnappt hatte. Ihre Sprache war viel reicher als das zurechtgestutzte Englisch, das sie in ihren Jobs bei der Telefonvermittlung oder an der Hotelrezeption verwendete, und das Standard-Englisch, das man ihren Kindern und Enkeln beibrachte. Vor allem wenn sie lebhaft und voller Begeisterung ihre Geschichten erzählte, rutschten ihr »he ain’ts« und »I says« heraus, doch ihre Fehler waren viel präziser als das korrekte Englisch, auf das sie ja durchaus hätte zurückgreifen können.
    Es ist verführerisch, sich diese alte Sprache als etwas vorzustellen, das auf modrigen Schränken, in den untersten Schubladen, zwischen Bettgestellen und Matratzen oder in Abstellkammern weiterlebt, als kleine Wörter, diezwischen den Nadeln, Knöpfen, Schrauben, Schaltern, Fäden und Drähten liegen, von denen jeder Haushalt seine Sammlung hat. Doch die Wörter müssen natürlich permanent in Gebrauch sein, in all den Reden und Geschichten, die es nicht ins Fernsehen schaffen: Sie müssen in der Republik benutzt werden, jener Welt, die das wirkliche amerikanische Volk hervorbringt und am Leben erhält (und nicht das, welches die Nachrichtenleute und Pressesprecher heraufbeschwören).
    Vielleicht passt daher ein anderes Bild besser: Die alte Sprache gleicht einem jener Häuser aus dem frühen 20. Jahrhundert, von denen man gelegentlich hört, Häuser, die in einer Epoche errichtet wurden, in der noch ein anderes Verständnis des Volkes, seiner Bedürfnisse – und Verdienste – gepflegt wurde, und die man nun von Angehörigen einer reichen Elite zurückfordert, die ohnehin längst ausgezogen sind. Einem heruntergekommenen Gebäude, in dessen Keller die ganze Zeit ein Schwimmbecken wartete, dekoriert mit marmornen Statuen griechischer Helden und Göttinnen, einem goldenen Beckenrand und einem Boden, in den Lapislazuli eingelassen ist, um die Bahnen für die Schwimmer abzugrenzen. Ein öffentliches Bad, Überbleibsel einer alten Metropolis, ein vergessenes Anwesen, das man neuen Bewohnern anvertraut hat.
    Die Sprache des Hip-Hop ist eine Sprache von Menschen, deren Erfindungsreichtum vital ist und die sich nehmen, was ihnen zusteht – von dem, was Amerika uns hinterlassen hat, und dem, was wir oder unsere Vorfahren daraus gemacht haben. Warum haben ausgerechnet jene Menschen, um die man sich am wenigsten gekümmert und die man zurückgelassen hat, einen Weg gefunden, etwas besonders Klassisches, Wertvolles und Intelligentes für Amerika hervorzubringen und zu bewahren? Warum besitzen sie unsere Sprache, während unsere offiziellen Repräsentanten allein zu Schwachsinn und Stummheit beitragen?
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An dieser Stelle sind vielleicht einige Sätze zum Begriff »weiß« angebracht. Wenn ich (als Literaturwissenschaftler und Publizist) nicht im Dienst bin, versuche ich, diese Kategorie vollkommen aus meinem Denken zu streichen. Unabhängig davon ist es natürlich das genau richtige Wort für jene bleichen Gesichter, an denen so viele Privilegien hängen. Manche Weiße tun dann so, als seien sie nicht in erster Linie weiß, sondern Iren, Italiener, Polen oder Juden. Sie spielen die ethnische Karte aus, das finde ich aber ein bisschen verlogen. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, die extrem von dem Bewusstsein geprägt war, der jüdischen Minderheit anzugehören. Die amerikanischen Juden haben sich jedoch ebenfalls enorme Vorteile erobert, indem es ihnen gelang, sich unter die Weißen einzureihen. Selten hatte eine beiläufige Bemerkung eine so beschämende, zugleich aber auch erleuchtende Wirkung auf mich wie eine Aussage Ralph Ellisons, der 1963 in einem Interview über die Zukunft der Minderheiten-Literatur, das der
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