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Bluescreen

Bluescreen

Titel: Bluescreen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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enden zu lassen, nur wenige hätten jedoch die Kraft, diesem Ende eine Bedeutung zu geben und aus ihrer Biografie eine runde, in sich abgeschlossene Erzählung zu machen. Wenn es um das Leben einer Gesellschaft geht, stehen wir vor der genau entgegengesetzten Schwierigkeit: Ihre Verehrer versuchen immer, vorzeitig ein Fazit zu ziehen, weil es besonderen Ruhm verspricht, der letzten Generation anzugehören. Es ist schließlich ein besonderer Nervenkitzel damit verbunden, im Schatten der letzten Dinge zu wandeln. Wenn jedoch später ganz andere Menschen dort wandeln, dann wird es ihnen schwerlich in den Sinn kommen, unsere Bedingungen zu akzeptieren. Sie werden ihr eigenes Manifest schreiben, und die Kultur wird lässig und ohne Haltung vor den Zeichen des Neuen stehen.
    Das angeblich nahe Ende erweist sich als etwas ganz anderes, als eigentlich gedacht. Es schließt viele kleine, zyklische Veränderungen ein, die lange Zeit – vielleicht sogar endlos – periodisch wiederkehren, bis wir bei der letzten Generation angekommen sind, wenn ein solches Monster denn überhaupt geboren werden kann. In den neunziger Jahren kam eine Postrock-Platte mit dem Titel Millions Now Living Will Never Die heraus. (Ein Satz, der auf einen Slogan der Adventisten des frühen 20. Jahrhunderts zurückgeht. Entstand der Gedanke spontan ein zweites Mal? Oder überlebte er wie ein Keim in der Luft, um nun erneut auszuschlagen?)
    Der letzten Generation wird unser Doktor sagen: »Ab jetzt kann euch nichts mehr etwas anhaben, wir haben die Krankheit besiegt. Lebt in alle Ewigkeit!« Und sie werden antworten: »Aber wassollen wir jetzt tun?«
     
     
     
    Eigentlich weiß man ja kaum, was es überhaupt bedeutet , geboren zu werden oder zu sterben, schließlich tun wirbeides äußerst selten. Unsere Leben werden nicht in erster Linie von ihren Enden geformt, sondern von den unendlichen Arten und Weisen, jene miteinander zu verknüpfen. Davon also, wie wir die Mitten unserer Lebensläufe zu Knoten oder Schleifen binden, obwohl wir uns nicht an ihren Ursprung erinnern und obwohl wir ihr Ende, über das wir nur Mutmaßungen anstellen können, niemals wirklich erfahren werden. In diesem Sinne müssen sogar politische Denker oder Denker, die sich mit ewigen Dingen befassen, die zentrale Rolle der Medien eingestehen.
    In unserer Zeit können wir mithilfe der Bluescreen-Technologie hinter jedes Porträt eines Menschen einen vollkommen beliebigen Hintergrund setzen. Mit diesen Porträts verhält es sich wie mit jenen Hochzeitsfotos aus Hongkong – die auch in Dubai, Lagos und der Mall of America aufgenommen und verkauft werden –, bei denen mal das Taj Mahal hinter dem glücklichen Paar auftaucht, mal die Freiheitsstatue oder der Strand irgendeiner Insel. Wenn ich solche Fotos sehe, beuge ich mich unwillkürlich vor, als ob ich den Eheleuten auf diese Weise in die Augen sehen könnte. Für welche Art von Freude leben sie? Inwiefern wird ihre Hochzeit aufgrund der Orte, die sie ausgewählt haben, aber wohl niemals mit eigenen Augen sehen werden, zu etwas ganz anderem? Ganz weit im Hintergrund befindet sich dabei immer der Blaue Bildschirm des abgestürzten Computers. Nennen wir ihn Himmel.
     
     
     
    Wenn ich mich frage, ob unsere Zivilisation an ihr Ende gelangen kann – und damit meine ich ihre Vollendung, nicht ihre Vernichtung –, dann finde ich es hilfreich zuberücksichtigen, dass der begrenztere kulturelle Bereich der Kunst schon zu meinen Lebzeiten tatsächlich an ein Ende gelangt ist , woran sich damals allerdings niemand groß zu stören schien. Jahrzehnte später sind wir immer noch da und tasten uns unsicher durch das Dunkel um uns herum.
    Es gibt nur einen einzigen Weg, den Stil, die künstlerischen Erzeugnisse und die Denkweise der Achtziger zu verstehen: Man muss erkennen, dass die Künste und mit ihnen womöglich die Welt an ein Ende gelangt waren. Der Minimalismus in der Musik, der die modularen Blöcke seiner betäubenden Kompositionen immer wieder wiederholte; der Brutalismus oder das postmoderne Ornament in der Architektur, die Plattenbauten und Geburtstagskuchen hervorbrachte, in denen niemand lange leben wollte, in denen allerdings auch niemand lange leben zu müssen glaubte; der Minimalismus und der Fotorealismus in der Malerei, mit denen die Künstler bewiesen, dass auch ihre harte Arbeit ununterscheidbar werden konnte von den Automatismen einfacher mechanischer Prozesse: Sie alle machten deutlich, dass eine vollkommen logische
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