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Bluescreen

Bluescreen

Titel: Bluescreen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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Entwicklung, die im 19. Jahrhundert begonnen hatte, vorangetrieben von Kadern einer Avantgarde, die sich untereinander mit verbundenen Augen bekämpften, an ihr logisches Ende gekommen war. Mit den Fortschritten, die die Ästhetik seit der Geburt der »modernen Kunst« parallel zu den Purzelbäumen der Sozialgeschichte gemacht hatte, erfüllte sich ihr Narrativ. Weiter konnte man nicht gehen.
    Und genau das war – was zum Beispiel den Bereich der Bekleidung angeht – das eigentliche Geheimnis hinter der befremdlichen Beliebtheit von Leggings, über denen manT-Shirts in Übergrößen trug, von Neonfarben, von eckig geschnittener Kleidung, die wie für Papierpuppen gemacht und mit einem Lineal entworfen worden zu sein schien. Jenseits dieses Punktes waren keine Experimente mehr möglich, noch weiter konnte man schlechterdings nicht reduzieren. Das Einzige, was jetzt noch blieb, waren jene universellen, von beiden Geschlechtern zu tragenden Gymnastikanzüge, die schon immer unsere Vorstellungen von der Kleidung »der Zukunft« geprägt haben, von der Zeit also nach der Ausmerzung der Gegenwart. Die achtziger Jahre wussten, dass sie das Ende waren. Es hat den Eindruck, als hätten sich damals viele Gruppierungen auf dieses Ereignis vorbereitet und die große Abschlussfeier für das Jahr 1984 geplant. 1984 als stillschweigend festgelegtes Verfallsdatum, an das sich Linke wie Rechte hielten: Man erkennt daran, dass Orwells Prophezeiung sich in einen süßen Traum verwandelt hat, der ein halbes Jahrhundert währte. Auch heute noch existiert in den USA keine oppositionelle oder andersdenkende Gruppierung, die nicht davon überzeugt wäre, dass sie von vor Computerbildschirmen sitzenden Handlangern der Regierung überwacht und verfolgt, dass sie schon bald zusammengetrieben und in Todeslager gesperrt werden und damit das Schicksal teilen wird, das die europäischen Juden ereilte. Selbst christliche Messianisten, Anhänger der These von der Überlegenheit der »Arier« und Antisemiten hegen diesen Verdacht, ja vielleicht ist er unter diesen Gruppen sogar am weitesten verbreitet. Der Big Brother ist jedoch niemals in der Form erschienen, in der wir ihn erwartet hatten. (Obwohl man manchmal glauben könnte, dass wir von seinem albern grinsenden, Mitgefühl heuchelnden Geschwister befriended wurden,dem Norman Mailer in den sechziger Jahren den Namen Big Buddy gab.)
    Mir ist diese Phase wichtig, weil ich genau in dieser Zeit die Bühne betrat. Im Jahr 1984 hatte ich die fixe Idee, dass ich den alles vernichtenden Atomkrieg überleben würde. (Man nahm damals an, dass dies die wahrscheinlichste Ursache für den Weltuntergang sein würde; die Kunst, der man das vormals ebenfalls zugetraut hatte, fiel an dieser Stelle aus.) Meine apokalyptischen Ambitionen waren damals, wenngleich teilweise romantisch, in erster Linie konsumorientiert. Ich hatte vor, mein Leben von nun an mit der hübschen kleinen Sechstklässlerin aus unserer Straße zu verbringen, während um uns herum alle Werte und Hierarchien in sich zusammenfielen. Gemeinsam würden wir in finsteren, verlassenen Läden nach Waffen und Süßigkeiten graben. Als Entschuldigung für meine damalige Naivität kann ich immerhin anführen, dass ich 1,20 Meter groß war und meine Mutter mir noch immer Gutenachtküsse gab. Doch wie lautete die Ausrede meiner erwachsenen Zeitgenossen, die ganz ähnliche Visionen hatten? Als die Welt 1984 dann doch nicht unterging bzw. als sie erst 1989 unterging, glaubten die inzwischen erwachseneren amerikanischen Kinder, die den einsetzenden Goldrausch managen sollten, dass sie nach dem Ende des Sozialismus auch noch den Rest an sich reißen und alle menschlichen Impulse ins Shopping und in den Markt umleiten könnten. Genau dieses Ende wurde dann in den neunziger Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends überall auf der Welt realisiert – so dass man sich heute nur noch darüber wundern kann, dass die Menschen nicht müde werden, immer dieselbe Platte zu hören, während die Grooves sich abnutzen.
    Wäre ich bereits erwachsen gewesen, ich glaube, ich wäre verrückt geworden in jenen Jahren, in denen die Widersprüche noch frisch und auf eine gewisse Art vollkommen waren, als Männer mit Atomwaffen die Konfrontation immer weiter anheizten und dabei zugleich mit ihren neoliberalen Spaten die soziale und demokratische Zivilisation zu untergraben begannen. Doch dann geschah ein historisches Wunder, und das Ende blieb aus. Die Atomraketen
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