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Bluescreen

Bluescreen

Titel: Bluescreen
Autoren: Kevin Mark; Vennemann Greif
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nett sind. Ich schaue solche Menschen einfach lieber an als dumme, gedankenlose oder gemeine. (Obwohl Vitalität manchmal eine unheilige Allianz mit der Macht eingeht und die Kombination von Authentizität und Brillanz Menschen dazu bewegen kann, sich nicht an die Regeln zu halten; aber das ist noch einmal etwas anderes als Gedankenlosigkeit.) Und natürlich kommt ein ganz ähnlicher Mechanismus ins Spiel, wenn es um Musik mit Texten geht, vorausgesetzt, ich habe sie verstanden. Möglicherweise sehen Sie die Sache anders, vielleicht sind Kunst und Werte für Sie zwei Paar Schuhe. Aber wenn dem so sein sollte, würde ich Ihrem Musikgeschmack (und Ihrer Menschenkenntnis) ohnehin nicht trauen. Vermutlich sind Sie einfach oberflächlich. (Intelligente und zugleich amoralische Menschen sind nämlich eine verschwindend kleine Gruppe.)
    Ich habe auch schon Musikfans getroffen, die sich gut auskennen, die mir aber gesagt haben, dass sie wirklich nie auf die Texte hören, ja dass sie sie nicht einmal wahrnehmen. Das ist ein komplett anderes Phänomen, das ich absolut nachvollziehen kann. Genau wie ich einsehe, dass manche Menschen nicht träumen oder farbenblind sind, zumal ich bei manchen Pink- und Grüntönen selbst Schwierigkeiten habe. Aber das ist ein anderes Thema, an das man ganz anders herangehen müsste. Ich bin in jedem Fall jederzeit bereit, mit diesen Menschen über Klangfarben und Rhythmen zu reden.
    In der Popmusik spielen Worte eine zentrale Rolle. Insbesondere liegt es geradezu in der Natur der populären Musik, Dinge auszusprechen, über die sonst niemand redet. Unter Pop verstehe ich dabei zeitgenössische Musik mit Texten, die so aufgenommen und produziert wird, dass die Hörer die Künstler mit ihren Stücken identifizieren, dass sie die Texte und die Musik als Ausfluss der Persönlichkeit des Interpreten betrachten (im Normalfall, weil die Künstler auch die Texte schreiben oder zumindest eine wichtige Rolle bei ihrer Entstehung spielen).
    Wenn Popmusik funktioniert, dann verweist sie auf eine Welt, die etwas abseits der Normalität und des Alltagsliegt. Diese Welt ist ein bisschen besser, ehrlicher, reicher an Emotionen. Das kann selbst dann gelingen, wenn die Texte eigentlich eher banal sind. Oder wenn nur ein paar Wörter auf sozusagen beschwörende Weise immer wieder wiederholt werden. Dennoch: So ganz passt die Theorie des Antestens und des Bewahrens, über die ich an anderer Stelle geschrieben habe, nicht zum Hip-Hop:
    »Pop [erlaubt es uns], denke ich, gewisse Dinge zu fixieren, die man schon einmal gedacht hat, ohne dass man vielleicht in der Lage gewesen wäre, sie zu artikulieren, und gewisse Gefühle, zu denen man nur vermittelt Zugang hat, in anderer Form zu bewahren, jedenfalls bei Musik mit Texten, in denen das Kognitive und das Emotionale nicht so strikt getrennt sind.« 3
    Wir hören diese Musik also mit jenem Teil unseres Gehirns, der für Aufmerksamkeit, Sprache und Erinnerung zuständig ist.
    Weil Hip-Hop-Texte in ganzen, oft langen Sätzen und Strophen organisiert sind, die Raum bieten für ausgedehnte Metaphern, Zitate, Wortspiele – und vor allem Witze, oft sehr tiefsinnige Witze –, erreicht er eine Komplexität der Artikulation, die ihn vom Rest der aktuellen Popmusik unterscheidet. Diese Besonderheit schließt Vergleiche zu anderen Genres nicht aus: Mit seinem Reichtum an Formeln und seiner Nähe zur Tradition der mündlichen Überlieferung erinnert er an Blues und das aus Reggae, Dub oder Dancehall bekannte Toasten; was die von Soli, der rituellen Staffelstabübergabe der Solisten, phrasierten Zitaten und der Improvisation über Leitmotive geprägte musikalische Struktur anbelangt, hat er viel mit dem Jazz gemeinsam. Die Formen der Darbietung und der Distribution wiederum teilt er mit dem auf einzelne Hit-Singles ausgelegten Pop (in den USA sprechen wir auch von Top-40-Pop). Wenn man ihn jedoch im weiteren musikhistorischen Kontext traditioneller Stilformen betrachtet, so kann er als Wiederbelebung der metrischen, reimbasierten Lyrik gelten, die um 1920 zu Ende ging. Was die Texte anbelangt, so hat der Hip-Hop seine Potenziale weiterentwickelt als jede andere Stilrichtung in der Geschichte der Musik. Hip-Hop kommuniziert wie eine Sprache, weil es sich im Wesentlichen um Sprache handelt, nicht einfach um Gesang.
    Ich kann mir gut vorstellen, dass jetzt jemand sagt: Aber warum um alles in der Welt hast du denn bitte den Glauben an den Postpunk verloren? Und an die Indie-Label? An
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