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Blitze des Bösen

Blitze des Bösen

Titel: Blitze des Bösen
Autoren: John Saul
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mittags.
Als sie an diesen Titel dachte, kam Anne Jeffers eine Szene
aus dem gleichnamigen Film in den Sinn, an den sie sich seit
ihrer Kindheit lebhaft erinnerte. Vor ihrem geistigen Auge sah
sie wieder das Schwarzweißbild zweier Männer, die sich Auge
in Auge auf einer staubigen Straße gegenüberstanden. Sie hatte
damals wie gebannt in einem alten Kino in Seattle gesessen, als
Gary Cooper seinem Widersacher die Stirn bot…
Nur wer war sein Gegner gewesen? Mit wem hatte sich
Cooper um zwölf Uhr mittags duelliert?
Obwohl ihr die Szene noch so lebendig vor Augen stand, als
hätte sie sie vor einer Woche und nicht vor über dreißig Jahren
gesehen, konnte sie sich nicht mehr erinnern, wer den
Bösewicht gespielt hatte. Schließlich war es der Sheriff, den
Gary Cooper spielte, gewesen, mit dem alle bangten, und nicht
der Schurke. Die Frage war nicht, ob der Schurke den Tod
verdient hatte, sondern ob Gary Cooper ihn erwischen würde,
bevor er selbst erschossen wurde. Es ging nur um den Kampf
des Guten gegen den Bösen – und alle standen auf der Seite des
Helden mit dem weißen Hut.
Aber heute um zwölf Uhr mittags ging es um eine andere
Abrechnung. Dabei handelte es sich um keinen Film, diese
Hinrichtung war real. Auf Beschluß des Staates von Connecticut sollte am heutigen Mittag die erste Hinrichtung seit fast
vierzig Jahren stattfinden. Und diesmal würde es keinen Gary
Cooper geben, für den sie hoffen könnte. Statt dessen würde
ein namenloser, gesichtsloser Mann einfach einen Schalter
drücken.
Und danach wäre ein anderer Mann, ein Mann, den sie schon
sehr lange kannte, tot.
Anne schauderte bei dem Gedanken und fühlte sich auf
einmal beschämt. Von ihren zweiundvierzig Jahren hatte sie
die letzten zwanzig als Reporterin für den Seattle Herald gearbeitet. Sie hatte über Brandkatastrophen und über die Bedrohung durch Aids berichtet, und eigentlich hätte es nichts mehr
geben dürfen, was sie erschaudern ließ. Sie hatte schon viele
Menschen sterben sehen. Ihre Mutter war vor fünf Jahren
gestorben, während sie ihr die Hand gehalten hatte. Dabei hatte
Anne gespürt, wie die letzte Woge von Lebenskraft ihrer
Mutter im Sterben noch genügend Kraft gegeben hatte, um
ihrer Tochter ein letztes Lächeln und einen ermutigenden
Händedruck zu schenken.
Damals hatte Anne nicht gezittert, im Gegenteil. Nachdem
ihre Mutter einen letzten schwachen Seufzer getan hatte und
ihr gequälter Körper schließlich im aussichtslosen Kampf
gegen den Krebs unterlegen war, empfand Anne eher eine
gewisse Dankbarkeit: Das Leiden ihrer Mutter hatte ein barmherziges Ende gefunden.
Auch war ihre Mutter nicht der einzige Mensch gewesen,
dessen letzte Augenblicke Anne hautnah miterleben mußte. Sie
hatte hilflos am Bett von Freunden gesessen, die an Aids
starben, in stummem Schrecken danebengestanden, als die
Ärzte das Leben der Opfer von Bandenschießereien in der
Notaufnahme des Harborview-Hospitals nicht mehr retten
konnten.
Einmal hatte sie sogar den zerschmetterten Körper eines
Zehnjährigen in den Händen gewiegt, den man aus dem
Autowrack seines Vaters geborgen hatte. Anne hatte das Blut,
das aus seinem Hals strömte mit ihrem Handschuh zurückzuhalten versucht und dabei gebetet, daß die Ärzte noch
rechtzeitig einträfen. Sie war in verzweifeltes Schluchzen ausgebrochen, als der Krankenwagen das Rennen gegen die Uhr
wegen einer Meute Schaulustiger, die die Straße verstopften,
verloren hatte.
Das war die gleiche Meute gewesen, die jetzt draußen nur
darauf wartete, daß es zwölf schlug und verkündet wurde, daß
der Gerechtigkeit Genüge getan war. Der Gerechtigkeit – oder
ihr, Anne Jeffers? War das vielleicht der Grund, warum ihr
schauderte?
Plötzlich wollte sie allein sein, um ihre Gefühle zu ordnen.
Sie erhob sich aus ihrem harten Stuhl im provisorisch eingerichteten Presseraum, den man den rund fünfzig Journalisten
zur Verfügung gestellt hatte, die über die Hinrichtung von
Richard Kraven berichten wollten. Anne bahnte sich ihren Weg
durch zwei Reihen langer Tische, die voller NotebookComputern und Telefonen standen. Sie klopfte einmal an die
Tür der Toilette, die allen Männern und Frauen im Presseraum
zur Verfügung stand, trat ein und schloß hinter sich ab.
Oberhalb eines zersprungenen Waschbeckens hing eine verbeulte Metallscheibe, aus der sie ihr Spiegelbild anstarrte.
Wenigstens konnte man ihr die Gefühle nicht vom Gesicht
ablesen, dachte sie erleichtert. Ihr Spiegelbild zeigte ein ovales
Gesicht mit
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