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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst
Autoren: George D Shuman
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reichte ihr. Sie ordnete die Art und Weise, wie jemand sprach oder sich verhielt, stets bestimmten körperlichen Merkmalen zu, obwohl sie nicht daran zweifelte, dass sie damit meistens völlig falschlag. Doch das spielte im Grunde keine Rolle. Sie konnte sich die Freiheit nehmen, sich zu Menschen, mit denen sie nicht oft zu tun hatte, alles vorzustellen, was sie wollte. Wenn sie jemanden besser kannte, dann war es ihr nicht mehr egal, wie der oder die Betreffende wirklich aussah. Wenn sie jemandem wirklich nahestand, dann »betrachtete« sie dessen Gesicht mit den Händen. Aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund wollte sie Metcalfs Gesicht sehen.
    Er war ein großer kräftiger Mann. So viel war klar nach dem physischen Kontakt, den sie mit ihm hatte, als sie in dem engen Laderaum des Hubschraubers neben ihm saß. Sie stellte sich vor, dass er ein kantiges Kinn mit einem Grübchen hatte, außerdem kurz geschnittenes schwarzes Haar, warme blaue Augen und ... sie hielt in ihren Gedanken inne, als ihr bewusst wurde, dass sie fantasierte – und fantasieren war etwas, was Sherry Moore nicht tat.
    »Wie hoch sind wir?«, fragte sie in ihr Mikrofon, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
    »Knapp über sechzehntausend Fuß«, meldete der Pilot. »Wir sind in einer Minute da.«
    »Haben Sie das schon mal gemacht?«, scherzte Sherry.
    Der Hubschrauber machte einen Bogen, und sie spürte, wie sich das Heck um seine Achse drehte.
    »Ein-, zweimal«, antwortete der Pilot trocken.
    Sherry hoffte, dass er auch lächelte.
    »Wie viele Leute klettern denn auf den Denali?«, fragte sie, um sich von dem Sinkflug abzulenken.
    »Ungefähr zwölfhundert im Jahr«, sagte der Pilot.
    »Und schaffen es die meisten hinauf auf den Gipfel?«
    »Etwa die Hälfte.«
    »Lenke ich Sie ab?«
    »Nicht im Geringsten.«
    »Kommt es öfter vor, dass welche hier oben sterben?«
    »Fünf oder sechs im Jahr. Fünfzig oder sechzig sind zu schwer verletzt, um es noch mal zu versuchen.«
    »Wie lang braucht man dazu?«
    »Fünfzehn bis zwanzig Tage normalerweise. Der Denali kann ein Spaziergang sein, aber auch die reinste Hölle. Niemand läuft absichtlich in einen Sturm hinein.«
    »Es ist schon beeindruckend«, meinte sie, »dass Leute solche Dinge machen.«
    »Haben Sie gewusst, dass auch schon blinde Bergsteiger auf dem Gipfel waren?«
    »Ich hab davon gehört«, antwortete sie.
    Das hatte sie in der Tat. Seit sie über Erik Weihenmayers Besteigung des Mount Everest im Jahr 2001 gelesen hatte, interessierte sie sich für diesen Sport. Weihenmayer war ein Weltklassebergsteiger und Athlet geworden, nachdem er im Alter von dreizehn Jahren das Augenlicht verlor. Nach der Besteigung des Everest erzählte er in Interviews, dass Bergsteigen für ihn viel mehr sei als eine spirituelle Suche. Erik liebte es, den harten Fels unter den Händen zu spüren. Er mochte die technischen Herausforderungen. Er sei gern unter kompetenten Leuten, deren Gesellschaft ihn selbst zu einem besseren Menschen mache.
    Man verstand, was er meinte. Blind zu sein war nicht etwas, was man sich aussuchte. Wie man lebte und auf welche Menschen man sich verließ, das hatte man sehr wohl selbst in der Hand.
    Aus einem Lautsprecher im Cockpit hörte man einen aufgeregten Wortwechsel über eine Hubschrauber-Bergung vom Muldrow-Gletscher. Offenbar gab es ein Problem mit einer Rettungsschlinge.
    »Hier hinunter?«, fragte der Pilot.
    Sherry spürte, wie Metcalf sich vorbeugte. Sie stellte sich vor, wie er durch ein Fenster hinausblickte.
    »Ist es hier machbar?«, fragte Metcalf zurück.
    »Ich kann euch runterbringen«, versicherte der Pilot.
    Plötzlich hörten die Vibrationen im Boden auf, und der Pave Hawk begann sich seitwärts zu bewegen und näherte sich dem Bergkamm.
    »So etwas habe ich noch nie gesehen«, meinte der Pilot.
    »Das Eis?«, fragte Metcalf.
    »Ich fliege jetzt seit fünf zehn Jahre zu dem Berg, aber so hat er noch nie ausgesehen.«
    »Beschreiben Sie es«, drängte Sherry.
    »Es ist völlig vereist. Wie Meereswellen, die mitten in der Bewegung zu Eis erstarrt sind.«
    Sie stellte sich die Meeresbrandung vor, bläulich weiß und elegant geschwungen, so wie sie sie in ihrer Kindheit in Wildwood, New Jersey, gesehen hatte, bevor sie mit fünf Jahren das Augenlicht verlor. Sie wusste, dass sich die Bergungsleute in eine gefährliche Situation begaben. Hier war kein Platz für Amateure, hier durfte man sich keine Fehler erlauben, und sie dachte sich erneut, dass sie eine
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