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Blind

Blind

Titel: Blind
Autoren: Joe Hill
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»Wir hatten nicht mehr weit bis zur Farm, und ich hab ja gewusst, dass ich da meine Tante treffen würde. Sie ist ausgebildete Krankenschwester.«
    »Ach ja? Erzählen Sie mir was über den Wagen, der Sie angefahren hat.«
    »Es war ein Pick-up«, sagte Jude und schaute kurz zu Nan, die leicht nickte und ihn mit aufmerksamen, bestimmten Augen anschaute. Jude atmete tief durch und fing an, seine Lügengeschichte zu erzählen.
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    Bevor Nan sein Zimmer verließ, blieb sie unschlüssig in der Tür stehen und drehte sich noch einmal um. Sie hatte wieder dieses Grinsen im Gesicht, dieses verspannte, gezwungene Grinsen, das Jude immer traurig machte.
    »Sie ist wirklich wundervoll, Jude«, sagte sie. »Und sie liebt dich. Man merkt das gleich … an der Art, wie sie über dich redet. Ich hab mit ihr gesprochen. Nur ganz kurz, aber … man merkt das sofort. Das ist Georgia, oder?« Nan schaute ihn mit schüchternen, gequälten, liebevollen Augen an, alles auf einmal. Sie hörte sich an, als wäre sie sich selbst nicht sicher, ob sie auf ihre Frage eine Antwort wollte.
    »Marybeth«, sagte Jude bestimmt. »Sie heißt Marybeth.«
    52
    Zwei Wochen später, zur Gedenkfeier an Dannys Grab, waren sie wieder in New York. Um den Hals trug Marybeth einen schwarzen Schal, der zu ihren schwarzen Spitzenhandschuhen passte. Obwohl es ein windiger, kalter Nachmittag war, hatten sich viele Menschen eingefunden. Es schien so, als wäre jeder, den Danny jemals angequatscht, beschwatzt oder am Telefon zugequasselt hatte, gekommen. Und das waren jede Menge. Und keiner ging früher, nicht einmal, als es zu regnen anfing.
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    Im Frühjahr nahm Jude eine neue Platte auf, ein schlichtes, hauptsächlich akustisches Album. Er sang über die Toten. Er sang über Straßen bei Nacht. Andere Musiker spielten die Sologitarren. Er selbst konnte Rhythmusgitarre spielen, mehr nicht. Er griff die Akkorde wieder – wie in seiner Kindheit – mit der linken Hand. Aber das klappte nicht besonders.
    Die neue CD verkaufte sich gut. Er ging nicht auf Tournee. Stattdessen ließ er sich drei Bypässe legen.
    Marybeth gab Tanzunterricht in einem angesagten Fitnesscenter in High Plains. Ihre Kurse waren rappelvoll.
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    Auf einem Autofriedhof in der Gegend entdeckte Marybeth einen abgewrackten Dodge Charger, zahlte dreihundert Dollar dafür und ließ ihn nach Hause schaffen. Den nächsten Sommer verbrachte Jude im Hof, schwitzend, mit nacktem Oberkörper, und restaurierte den Wagen. Abends kam er spät ins Haus, am ganzen Körper braun, bis auf die senkrechte, silbern glänzende Narbe in der Brustmitte. Marybeth wartete immer gleich hinter der Tür mit einem Glas selbst gemachter Limonade auf ihn. Manchmal gaben sie sich einen KUSS, der nach kaltem Saft und Motoröl schmeckte. Das waren ihm die liebsten.
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    Eines Nachmittags Ende August kam Jude schwitzend und sonnenverbrannt ins Haus und fand auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von Nan vor. Sie sagte, sie habe ein paar Informationen für ihn und er könne sie jederzeit zurückrufen. Jederzeit hieß sofort, also rief er gleich in ihrer Kanzlei an. Er setzte sich auf die Kante von Dannys altem Schreibtisch, während Nans Empfangsdame ihn durchstellte.
    »Leider kann ich dir über diesen George Ruger nicht viel erzählen«, sagte sie ohne Einleitung. »Du wolltest wissen, ob im letzten Jahr sein Name im Zusammenhang mit einer Strafsache aufgetaucht ist. So wie es aussieht, lautet die Antwort nein. Wenn du mir vielleicht ein paar zusätzliche Einzelheiten geben könntest, warum du dich speziell für diesen Burschen interessierst, dann könnte ich …«
    »Nein, danke. Ist nicht weiter wichtig«, sagte Jude.
    Ruger hatte also nicht Anzeige erstattet. Kein Wunder. Wenn er ihn angezeigt oder versucht hätte, ihn festnehmen zu lassen, dann hätte Jude das ohnehin schon erfahren. Er hatte eigentlich auch nicht damit gerechnet, dass Nan irgendetwas ausgraben würde. Ruger konnte nicht über ihren kleinen Disput reden, wenn er nicht riskieren wollte, dass die Geschichte mit Marybeth ans Tageslicht kam, dass er mit ihr geschlafen hatte, als sie noch ein blutjunges Schulmädchen gewesen war. Jude wusste ja, dass der Mann eine bedeutende Figur in der Lokalpolitik war. Da war es beim Spendensammeln nicht sonderlich hilfreich,wenn man der Unzucht mit Minderjährigen angeklagt war.
    »Bei Jessica Price hatte ich etwas mehr Glück.«
    »Ach«, sagte Jude. Schon bei der Erwähnung ihres Namens zog sich ihm der Magen
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