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Blind

Blind

Titel: Blind
Autoren: Joe Hill
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werden könnte, dann würde ich mich auf der Stelle sterilisieren lassen.«
    Als Reese ihre Schokolade ausgetrunken hatte, zog Jude seine Regenjacke an und sagte, er werde sie mit dem Auto zum Busbahnhof bringen.
    Eine Zeit lang fuhren sie schweigend dahin. Das Radio war nicht eingeschaltet, die einzigen Geräusche kamen vom Regen, der auf das Dach prasselte, und von den hin- und herschrappenden Scheibenwischerndes Chargers. Einmal schaute er zur Seite und sah, dass sie den Sitz zurückgekippt und die Augen geschlossen hatte. Sie hatte die Jeansjacke ausgezogen und wie eine Decke über sich gelegt. Er glaubte, dass sie schlief.
    Aber kurz danach öffnete sie ein Auge und blinzelte zu ihm hinüber. »Sie haben meine Tante Anna wirklich gemocht, oder?«
    Er nickte. Die Scheibenwischer machten schrapp, schrapp, schrapp.
    »Meine Mutter hat Dinge getan, die sie nicht hätte tun dürfen«, sagte Reese. »Wenn ich manches davon vergessen könnte, würde ich meinen linken Arm dafür hergeben. Manchmal glaube ich, dass Tante Anna ein paar von den Sachen rausbekommen hat, die meine Mutter gemacht hat, meine Mutter und der alte Craddock, ihr Stiefvater, und dass sie sich deshalb umgebracht hat. Weil sie mit dem, was sie wusste, nicht mehr leben konnte und weil sie auch niemanden hatte, mit dem sie darüber reden konnte. Ich weiß natürlich auch, dass sie schon vorher todunglücklich war. Und vielleicht hat sie ja auch ein paar von diesen üblen Sachen mitmachen müssen, als sie noch klein war. Die gleichen Sachen wie ich.« Sie schaute ihm offen ins Gesicht.
    Reese wusste also wenigstens nicht über alles Bescheid, was ihre Mutter getan hatte. Es gab auf der Welt tatsächlich noch so etwas wie Barmherzigkeit, dachte Jude.
    »Tut mir leid, was ich mit Ihrer Hand angestellt habe«, sagte sie. »Ehrlich. Manchmal träume ich von Tante Anna. Wir fahren dann zusammen im Auto durch die Gegend. Sie hat einen coolen alten Schlitten, einen wie den hier, nur schwarz. In meinen Träumen ist sie nicht mehr traurig. Wir gondeln einfach so in der Landschaft herum. Sie hört die Musik von Ihnen im Radio.Und dann sagt sie immer, dass Sie nicht in unser Haus gekommen sind, um mir wehzutun. Sie sagt, dass Sie dem allem ein Ende machen und meine Mutter dafür zur Rechenschaft ziehen wollten, dass sie das alles zugelassen hat, was man mir angetan hat. Ich wollte Ihnen bloß sagen, dass es mir leidtut und ich wirklich hoffe, dass Sie glücklich sind.«
    Er nickte, sagte aber nichts. Und zwar deshalb, weil er sich nicht sicher war, ob er auch nur ein einziges Wort herausgebracht hätte.
    Sie betraten das Busbahnhofsgebäude. Reese setzte sich auf eine zerkratzte Holzbank, während Jude eine Fahrkarte nach Buffalo kaufte. Er sagte dem Mann am Schalter, dass er die Fahrkarte in einen Umschlag stecken solle. Dann nahm Jude zwei Hundertdollarscheine und schob sie zwischen ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auf dem er seine Telefonnummer notiert hatte mit der Bitte, sofort anzurufen, wenn sie in irgendwelche Schwierigkeiten gerate. Dann ging er zu ihr und steckte den Umschlag in die Seitentasche an ihrem Rucksack, damit sie nicht gleich nachschauen konnte und ihm dann möglicherweise das Geld wieder zurückgeben wollte.
    Sie gingen zusammen nach draußen auf die Straße. Der Regen war stärker geworden, und das letzte Tageslicht hatte sich verflüchtigt. Alles sah blau, schattenhaft und kalt aus. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm zum Abschied einen KUSS auf die kalte, nasse Wange. Bis dahin hatte er sie als junge Frau betrachtet, aber ihr KUSS war der unbekümmerte KUSS eines Kindes. Der Gedanke, dass sie jetzt Hunderte von Meilen unterwegs war, ohne dass jemand auf sie aufpassen würde, erschien ihm plötzlich noch beängstigender.
    »Also dann«, sagten sie beide genau im gleichen Moment. Sie mussten lachen. Jude drückte ihre Hand,nickte und wusste nichts mehr zu sagen außer: »Mach's gut.«
    Als er zu Hause ankam, war es stockdunkel. Marybeth nahm zwei Sam Adams aus dem Kühlschrank und kramte in den Schubladen nach dem Flaschenöffner.
    »Ich wollte, ich hätte irgendwas für sie tun können«, sagte Jude.
    »Sie ist noch ein bisschen jung«, sagte Marybeth. »Sogar für dich. Lass also die Finger vom Reißverschluss, okay?«
    »Herrgott noch mal, so habe ich das nicht gemeint.«
    Marybeth fing an zu lachen, nahm ein Geschirrtuch und warf es ihm ins Gesicht.
    »Trockne dich ab. So patschnass, wie du bist, siehst du erst
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