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Blind

Blind

Titel: Blind
Autoren: Joe Hill
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schüttelte sie.
    »Ey, Alter, ich musste einfach kommen. Hast mir ja damals auch die Stange gehalten«, sagte Dizzy.
    »Schön, dich zu sehen«, sagte Jude. »Ich hab dich vermisst.«
    »Wie bitte?«, sagte die Schwester, die auf der anderen Seite des Bettes stand. Jude schaute zu ihr hinüber, er hatte sie noch gar nicht bemerkt. Als er den Kopf wieder zu Dizzy drehte, sah Jude, dass seine ausgestreckte Hand leer in der Luft hing.
    »Mit wem reden Sie da?«, fragte die Schwester.
    »Alter Freund von mir. Hab ihn seit seinem Tod nicht mehr gesehen.«
    Sie rümpfte die Nase. »Wir müssen wohl mit der Morphiumdosis etwas runtergehen, Schätzchen.«
    Später trottete Angus im Raum herum und verschwand unter seinem Bett. Jude rief ihn beim Namen, aber er ließ sich nicht blicken. Er blieb unter dem Bett und schlug mit dem Schwanz auf den Boden. Ein gleichmäßiges Trommeln im Takt von Judes Herzschlag.
    Jude hatte keine Vorstellung, welche tote oder berühmte Person als Nächstes auftauchen würde, und war überrascht, dass er ganz allein war, als er die Augen öffnete. Er befand sich im dritten oder vierten Stock eines Krankenhauses außerhalb von Slidell. Vor dem Fenster breitete sich im winterlich blauen Licht des Spätnachmittags der Lake Pontchartrain aus. Entlang der Uferlinie drängelten sich Kräne, und ein rostiger Öltanker kämpfte sich in östliche Richtung. Zum ersten Mal konnte er den See riechen, stieg ihm der leicht salzige Geruch des Wassers in die Nase. Jude weinte.
    Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, klingelte er nach der Schwester. Stattdessen kam ein Arzt, ein ausgezehrter Schwarzer mit traurigen, blutunterlaufenen Augen und rasiertem Schädel. Mit leiser, rauer Stimme fing er an, Jude über seinen Gesundheitszustand in Kenntnis zu setzen.
    »Hat jemand Bammy angerufen?«, unterbrach Jude den Arzt.
    »Wer ist das?«
    »Marybeths Großmutter«, sagte Jude. »Wenn ihr noch keiner Bescheid gesagt hat, dann würde ich das gern machen. Bammy hat ein Recht darauf zu erfahren, was passiert ist.«
    »Wenn Sie mir den Familiennamen und die Nummer oder Adresse geben, dann kann ich der Schwester sagen, dass sie das erledigen soll.«
    »Besser, wenn ich das selbst erledige.«
    »Sie haben eine Menge durchgemacht. Ich glaube, wenn Sie selbst anrufen, in Ihrem Zustand, dass sie das nur beunruhigen würde.«
    Jude starrte ihn an. »Ihre Enkeltochter ist gestorben. Der Mensch, den sie auf der Welt am meisten geliebt hat. Glauben Sie, es beunruhigt sie weniger, wenn sie das von einem Fremden erfährt?«
    »Genau deshalb sollten wir anrufen«, sagte der Arzt. »Das gehört zu den Dingen, die ihre Familie nicht hören soll. In einem ersten Telefongespräch mit Angehörigen konzentrieren wir uns erst einmal auf das Positive.«
    Jude merkte, wie fertig er noch war. Die Unterhaltung hatte einen irrealen Beigeschmack, den er seinem Fieber zuschrieb. Er schüttelte den Kopf und fing an zu lachen. Dann merkte er, dass er wieder weinte. Er fuhr sich mit zitternden Händen übers Gesicht.
    »Auf das Positive konzentrieren?«, sagte er.
    »Es könnte schlimmer stehen«, sagte der Arzt. »Zumindest ist ihr Zustand im Augenblick stabil. Ihr Herzschlag hat nur ein paar Minuten ausgesetzt. Menschen sind schon länger tot gewesen. Es sollten nur geringfügige …«
    Den Rest hörte Jude nicht mehr.
    49
    Und dann war er draußen in den Gängen. Ein über eins achtzig großer, zwei Zentner schwerer Mann, vierundfünfzig Jahre alt, mit einem zotteligen schwarzen Bartgewölle, in einem flatternden, hinten offenen Krankenhauskittel, der seine eingefallenen, unbehaarten Pobacken entblößte. Im Laufschritt neben ihm der Arzt, umringt von Schwestern, die ihn zurück in sein Zimmer treiben wollten. Aber er marschierte weiter, den Tropf am Arm, den ratternden Infusionsständer mit dem Lösungsbeutel neben sich herziehend. Er war vollkommen klar im Kopf, vollkommen wach, seine Hände waren ihm egal, seine Atmung funktionierte einwandfrei. Er fing an, ihren Namen zu rufen, und war überrascht, wie gut er bei Stimme war.
    »Mr Coyne«, sagte der Arzt. »Mr Coyne, sie ist noch nicht in der Verfassung … Sie sind noch nicht in der Verfassung …«
    Bon lief an Jude vorbei den Gang hinunter und bog an der nächsten Ecke rechts ab. Jude ging schneller. Er kam zu der Ecke, schaute rechts in den Gang und sah gerade noch, wie Bon fünf Meter weiter durch eine Flügeltür schlüpfte. Zischend schloss sich hinter ihr die hydraulische Tür.
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