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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst
Autoren: Chevy Stevens
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das versucht, seinen Fesseln zu entkommen. Ich sah Michelle an, um ihr zu signalisieren, dass sie unbesorgt gehen konnte.
    Michelle lächelte Heather an.
    »Ich sehe später noch mal nach Ihnen, Liebes. Falls Sie irgendetwas brauchen.«
    Michelles herzliche Art im Umgang mit den Patienten war mir schon öfter positiv aufgefallen. Sie saß oft da und redete mit ihnen, selbst in ihren Pausen. Als sich die Tür hinter ihr schloss, wandte ich mich wieder an meine Patientin.
    »Können Sie mir sagen, wie alt Sie sind, Heather?«
    »Fünfunddreißig«, sagte sie langsam, wobei sie sich umschaute und allmählich zu begreifen schien, wo sie sich befand. Ich versuchte den Raum mit ihren Augen zu sehen und empfand Mitleid mit ihr: Die schwere Metalltür hatte nur ein kleines Plastikfenster, und die Plexiglasabdeckung vor dem Fenster wies Kratzspuren auf, als hätte jemand versucht, sich seinen Weg hinauszuscharren – was tatsächlich der Fall gewesen war.
    »Und wie heißen Sie?«, sagte ich.
    »Heather Duncan …« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie sich bei einem Fehler ertappt, doch die Bewegung wirkte träge und verzögert. »Simeon. Jetzt heiße ich Simeon.«
    Ich lächelte. »Haben Sie vor kurzem geheiratet?«
    »Ja.« Kein M-hm. Sie war wohlerzogen, und man hatte ihr beigebracht, deutlich zu sprechen. Ihr Blick blieb an der schweren Metalltür hängen. »Daniel … ist er hier?«
    »Er ist hier, aber ich würde gerne zuerst mit Ihnen sprechen. Wie lange sind Sie und Daniel schon verheiratet?«
    »Sechs Monate.«
    »Was machen Sie beruflich, Heather?«
    »Im Moment mache ich gar nichts, aber früher habe ich im Laden gearbeitet. Wir kümmern uns um die Erde.«
    Mir fiel auf, dass sie zur Gegenwartsform gewechselt war.
    »Sind Sie Landschaftsarchitektin?«
    »Es ist unsere Aufgabe, das Land zu hegen und zu bewahren.«
    Ich verspürte ein unangenehmes Flattern in der Magengegend bei dieser Phrase. Sie klang vertraut, und sie hatte es so gesagt, als würde sie einen Ausdruck wiedergeben, den sie viele Male gehört hatte. Sie wiederholte, sprach jedoch nicht selbst.
    »Wie ich hörte, hatten Sie eine schlechte Nacht«, sagte ich. »Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?«
    »Ich will nicht hier sein.«
    »Sie sind im Krankenhaus, weil es unter die Bestimmungen fällt. Sie haben versucht, sich etwas anzutun, und wir wollen nicht, dass das noch einmal vorkommt. Also werden wir Ihnen helfen, damit Sie wieder gesund werden.«
    Sie richtete sich auf, bis sie saß. Als sie sich auf die Matratze stützte, fiel mir auf, wie dünn ihre Arme waren. Die Adern traten deutlich hervor, und sie zitterte, als würde die Anstrengung, ihren Körper in der Aufrechten zu halten, sie erschöpfen.
    »Ich wollte nur, dass das alles aufhört.« Tränen stiegen ihr in die Augen, liefen ihr übers Gesicht und tropften von der Nase herab. Eine landete auf ihrem Arm. Heather starrte darauf, als hätte sie keine Ahnung, wie sie dorthin gelangt war.
    »Was soll aufhören?«
    »Die schlechten Gedanken. Mein Baby …« Ihre Stimme brach, und sie zuckte mit zusammengebissenen Zähnen zusammen, als verspürte sie tief in ihrem Inneren einen Stich.
    »Hatten Sie eine Fehlgeburt, Heather?« Laut ihrer Akte hatte sie vor einer Woche ihr Kind verloren, aber ich wollte sehen, ob sie mir von sich aus mehr darüber erzählen würde.
    Eine weitere Träne löste sich und tropfte auf ihren Arm.
    »Ich war im dritten Monat, als ich anfing zu bluten …« Sie holte tief Luft und stieß sie langsam durch die zusammengepressten Lippen wieder aus.
    Ich schwieg einen Moment, aus Respekt vor dem, was sie mir gerade erzählt hatte. Dann sagte ich sehr behutsam: »Das tut mir leid, Heather. Das muss sehr schmerzhaft für Sie gewesen sein. Es ist völlig normal, sich deprimiert zu fühlen, nachdem man ein Kind verloren hat. Aber wir können Ihnen helfen, mit Ihren Gefühlen fertig zu werden, damit sie Sie nicht überwältigen. In Ihrer Krankenakte steht, dass Ihr Arzt Ihnen letztes Jahr ein Antidepressivum verschrieben hat. Nehmen Sie es noch?«
    »Nein.«
    »Wann haben Sie damit aufgehört?«
    »Als ich Daniel kennenlernte.« Ich hörte den leicht abwehrenden Unterton und wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihre Tabletten nicht weitergenommen hatte, und sich schämte, dass sie sie überhaupt brauchte. Menschen mit Depressionen hören oft auf, ihre Medikamente zu nehmen, wenn sie sich verlieben, die Endorphine bilden ein eigenes, natürliches
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