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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer
Autoren: Christiane Wünsche
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er war. Auf zurückhaltende, einfache, sehr männliche Art.
Komisch, dass ihr das zuvor nie aufgefallen war.
    »Und
du?«, wollte er jetzt wissen. »Was hat dich um die Jahreszeit hierher
verschlagen? So lange und so ganz allein?«
    Jule
war auf die Frage nicht vorbereitet. Und auf eine Antwort erst recht nicht.
    »Ich
brauchte eine Auszeit«, erklärte sie daher knapp. »Möchtest du noch Glühwein?«
    »Klar.
Wenn du einen mittrinkst.«
    Sie war
sicher, dass er ihr Ausweichmanöver durchschaut hatte. Und es akzeptierte. Sie
begann, sich in seiner Gesellschaft wohl zu fühlen.
    Nachdem
der Punschtopf geleert war, öffnete Jule einen Dornfelder. Inzwischen fühlte
sie sich ziemlich beschwipst. Es war ihr egal. Auch Michael hatte glasige Augen,
doch er hielt sich tapfer. Aufmerksam lauschte er, als Jule ihm von ihren
Großeltern erzählte, denen Caravan und Stellplatz früher gehört hatten.
    »Schon
als Kind bin ich mit meiner Mutter an den Wochenenden hergekommen. Es war für
mich das Paradies. Manchmal durfte ich in einem kleinen Zelt unter dem
Kirschbaum schlafen. Ich fand es super. Tagsüber war ich mit Opa im Wald, und
der hat mir alles über Tier-und Pflanzenwelt beigebracht. Ein Herbarium haben
wir angelegt. Und mit Oma habe ich Salat geschnibbelt oder Erbsen gepult. Sie
hat mir Geschichten von früher erzählt, von ihrer Kindheit und vom Krieg. Mama
lag meistens in der Hängematte und hat gelesen … «
    »Und
dein Vater?« Michas Stimme kam von weither, aber die Frage saß.
    Sie
riss sich zusammen und antwortete knapp: »Den kannte ich kaum. Er hat uns
verlassen, als ich vier war. Meine Mutter und ich haben nie mehr von ihm gehört … «
    »Oh.
Tut mir leid.«
    Instinktiv
verstand sie, dass er seine eigene Neugier meinte, nicht die Tatsache, dass ihr
Vater die Familie im Stich gelassen hatte. Trotz ihres angeheiterten Zustandes
wurde ihr klar, dass Diskretion Teil seines Wesens war.
    Und
tatsächlich. Er hakte nicht weiter nach. Ließ ihr ihre Inseln. Das machte sie
froh. Umgekehrt erkannte sie bald, wo seine Grenzen lagen, bis zu denen sie
vorstoßen durfte. ›Bis hierher und nicht weiter‹ lautete das Motto des Tages.
So war Michaels unmittelbare Vergangenheit tabu, von der Kindheit hingegen
erzählte er bereitwillig.
    »Mein
Alter hat gesoffen und irgendwann auf dem Land keinen Job mehr gekriegt. Da
sind wir mit der ganzen Familie nach Köln gezogen, meine Mutter, meine kleine
Schwester und ich. Aber der Alte hat sich schnell vom Acker gemacht. Und Mama
hat sich für uns krumm geschuftet. Trotzdem ging es uns mies. In Urlaub fahren
gab es nicht. Ein paar Mal war ich in den Ferien bei Tante Gerti und Onkel
Hermann. Aber dich habe ich nie hier gesehen.«
    »Du
bist mit den beiden verwandt?«, fragte Jule verblüfft.
    »Über
drei Ecken«, schränkte Micha sofort ein. »Meine Oma und Gerti waren Cousinen.«
    »Ah, so
bist du also an den Job gekommen.«
    »Genau.«
    Er
nickte. Lächelte. Dann erhob er sich umständlich. Schwankte leicht. »So, ich
glaub, ich geh jetzt mal. Hab noch was zu tun. War nett, mit dir zu quatschen.«
    An der
Wohnwagentür hielt er inne, fixierte Jule plötzlich eindringlich und
artikulierte überbetont, wie es Betrunkenen eigen ist: »Schließ den Wohnwagen
gut ab, bevor du ins Bett gehst. Draußen läuft ein Mörder frei rum, vergiss das
nicht.«
    Er
deutete auf die aufgeklappte Zeitung auf ihrem Tisch, nickte bedächtig und weg
war er.
     
    Beunruhigt schaute Jule ihm
nach. Er nimmt die Geschichte mit dem flüchtigen Verbrecher ganz schön ernst,
dachte sie aufgeschreckt. Übertreibt er oder hat er etwa recht?
    Sie
leerte das Rotweinglas und machte sich daran, ihr Duschzeug zusammen zu suchen.
Es war fast 19 Uhr,
noch durfte es im Waschhaus leer sein. Sie freute sich auf eine heiße Dusche
und auf das Fernsehprogramm im Anschluss. ›Der Name der Rose‹ lief um Viertel
nach acht, einer ihrer Lieblingsfilme. Es würde ein ruhiger Abend werden.
     
    Jule belauschte den Streit, als
sie sich gerade frisch geduscht, eingecremt und geföhnt auf dem Rückweg zum
Stellplatz befand. Inzwischen war es stockdunkel. Vereinzelt boten beleuchtete
Pfähle entlang des Weges Orientierung. Es schneite noch immer, und sie hatte
sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, damit kein einziges Härchen feucht
werden und sich womöglich ringeln konnte. Sie hasste nichts mehr, als wenn eine
gerade getane Arbeit zunichte gemacht wurde. Und ihr störrisches dunkles Haar
in Form zu bringen, war nicht
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