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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer
Autoren: Christiane Wünsche
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einfach. Es benötigte Kraft und Geduld. Leider.
    Mit
einer Kapuze über den Ohren hörte es sich nicht so gut wie ohne. Daher bekam
sie das hitzig geführte Gespräch am Müllcontainer erst spät mit. Einer der
beiden Männer, der hinter einer Birke stand und für Jule deshalb nicht zu
identifizieren war, beschimpfte den anderen. Dieser andere war Michael, das
Faktotum. Ohne genau zu wissen warum, versteckte sich Jule hinter dem
Sichtschutzzaun der Entsorgungsecke. Jetzt konnte sie die beiden zwar nicht
mehr sehen, war aber näher dran.
    »Wenn
du dein Maul nicht hältst, bist du den Job hier los«, vernahm Jule. Wem die
aufgebrachte Stimme gehörte, konnte sie nicht zuordnen. »Und noch einiges
mehr.«
    Michaels
Antwort war kurz. Sie hörte seine unterdrückte Wut. Auch wirkte er gar nicht
mehr betrunken, sondern stocknüchtern: »Lass mich vorbei!«
    »Erst,
wenn du schwörst zu schweigen.« Der Tonfall des Fremden war drängend.
    Michael
klang resigniert. »Bleibt mir doch gar nichts anderes übrig.«
    »Gut,
dass du es so siehst. Ist auch besser für dich.«
    Der
andere schien zufrieden.
    Nun
sprach keiner mehr, dafür hörte Jule sich entfernende, im Schnee knirschende
Schritte. Sie wartete eine Weile, bis sie sicher sein konnte, dass die Männer
weg waren. Erst dann verließ sie ihren Posten.
    So
viele Geheimnisse an so einem kleinen Ort, wunderte sie sich beunruhigt,
während ihre Füße den Weg zum Stellplatz von ganz allein fanden.
     
    Der Schlaf wollte nicht kommen.
Jule wälzte sich unruhig im Bett hin und her, immer mit gespitzten Ohren.
Michaels Warnungen hatten ihr Angst gemacht, eine diffuse Angst, die unter der
Haut kribbelte. Ein Mörder läuft frei herum. Ganz in der Nähe. Sie hatten es
vorhin sogar in den Fernsehnachrichten gebracht.
    Dieser
Stefan Winter hatte unmittelbar nach seinem Ausbruch unter Waffengewalt eine
Autofahrerin als Geisel genommen. Er hatte sie gezwungen, bis nach Euskirchen
zu fahren, wo er an einer roten Ampel aus dem Wagen sprang. Kurze Zeit später
stahl er den Golf eines Mannes, der am Kiosk Zigaretten holte und den Schlüssel
im Zündschloss stecken gelassen hatte. Nach dem Verbleib des Fahrzeugs wurde
intensiv gefahndet. Aber noch fehlte jede Spur von dem flüchtigen Verbrecher.
Inzwischen war er seit fast zwei Tagen auf freiem Fuß.
    »Er ist
übermüdet und vermutlich hungrig«, hatte ein Polizeisprecher erklärt. »Wir
raten der Bevölkerung dringend, sich von dem Mann fern zu halten. Stefan Winter
ist bewaffnet und völlig unberechenbar. Wir wissen nicht, wie er reagiert, wenn
er sich in die Enge getrieben fühlt. Der Mann hat nichts zu verlieren.
Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung ist die härteste Strafe,
die es in Deutschland gibt. Und Winter hatte auch nach 25 Jahren Haft keine
Aussicht auf ein Leben in Freiheit. Nach seiner Flucht und der Geiselnahme
natürlich erst recht nicht. Er könnte wieder morden oder sogar den eigenen Tod
vorziehen, um einer erneuten Inhaftierung zu entgehen.«
    Wie
schrecklich, dachte Jule, wenn man körperlich gesund, aber dermaßen ohne
Hoffnung und Perspektive ist, dass der Tod das kleinere Übel darstellt. Sie
konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Trotz der Krise, in der sie
zweifellos zurzeit steckte, lag immer noch eine lebenswerte Zukunft vor ihr.
Als sie sich das klar machte, fühlte sie sich auf einmal leicht und frei. Ihre
Unruhe wich. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen.
     
    Leise Geräusche weckten sie.
Der Leuchtanzeige des Weckers zeigte 2.32 Uhr. Jule schlug das Herz
sprichwörtlich bis zum Hals, während sie in die Dunkelheit lauschte. Wieder
hörte sie etwas. Draußen knirschte es. Mehrmals. Es klang wie Schritte im
Schnee. Dann Stille. Sie hielt den Atem an und vermied jede Bewegung. Nichts
mehr. Plötzlich ein lang gezogenes Scharren, gefolgt von gedämpftem Plumpsen.
Ihre Furcht steigerte sich zur nackten Angst. Starr lag sie da, unfähig, einen
klaren Gedanken zu fassen. Jemand schlich um den Wohnwagen herum. Versuchte,
sich Einlass zu verschaffen. In dem Moment scharrte es erneut. Gleichmäßig, wie
ein Rutschen. Kurz darauf der Aufprall.
    Und da
ahnte sie, was es war. Erleichterung durchströmte sie, mächtig, jubilierend.
Der Schnee, frohlockte sie. Bloß der Schnee!
    Die
Schicht wurde zu dick, also glitten ab und an Teile Schneedecke vom schrägen
Dach des Pavillons nach unten. Wie winzige Lawinen. Das musste es sein. Sie
nahm allen Mut zusammen, setzte sich auf und schob
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