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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer
Autoren: Christiane Wünsche
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Winters Flucht. ›Deutschlands Schwerverbrecher
Nr. 1‹ – warum nur hatte bis vor ein paar Tagen kein Mensch von dem Mann
gehört, fragte sich Jule ironisch – sei
bislang wie vom Erdboden verschluckt. Ganze Hundertschaften von Staatsdienern
hätten ihn nicht in dem kleinen Eifeltal rund um den Fundort des gestohlenen
PKW aufspüren können. Es folgte eine kurze Biografie des zu lebenslänglicher
Haft verurteilten Mörders, bei der man den Eindruck gewinnen konnte, es mit
einem Teufel in Menschengestalt zu tun zu haben. Jule las zwischen den Zeilen
das Schicksal eines Mannes heraus, der in schwierigen Verhältnissen
aufgewachsen und seit frühester Jugend auf die schiefe Bahn geraten war.
Während und zwischen den immer längeren Gefängnisaufenthalten war aus dem
Kleinganoven ein ›schwerer Junge‹ geworden. Seine kriminelle Karriere gipfelte
in mehrere Raubüberfälle Mitte der achtziger Jahre. Bei dem letzten, einem
Überfall auf eine Euskirchener Sparkassenfiliale, eskalierte die Situation. Die
Polizei umstellte das Gebäude, worauf Winter und sein Komplize einen
Bankangestellten als Geisel nahmen. Draußen vor der Bank drehte Winter durch.
Kaltblütig tötete er einen Polizisten, Familienvater von drei kleinen Kindern,
mit einer Kugel direkt ins Herz, bevor ihm selbst in die Lunge geschossen wurde
und er das Bewusstsein verlor. Der Mittäter konnte im anschließenden
Durcheinander unerkannt, weil maskiert, mit der Beute fliehen – rund
600.000 DM in großen Scheinen. Sowohl von dem Täter als auch von der Beute
fehlte bis heute jede Spur. Der verhaftete Winter schwieg sich hartnäckig zur
Identität seines Komplizen und zum Verbleib des Geldes aus. Das Urteil
›Lebenslänglich‹ unter Feststellung der ›besonderen Schwere der Schuld‹ nahm er
laut des Zeitungsartikels mit ›unbewegter Miene und ohne Reue‹ zur Kenntnis.
Auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung ließ ihn offenbar kalt.
    Im
Anschluss an Stefan Winters Lebensgeschichte folgten Mutmaßungen darüber, wie
dem Häftling die Flucht aus der JVA Köln hatte gelingen können. Fest stand,
dass er unter Waffengewalt einen Justizvollzugsbeamten gezwungen hatte, ihm
sämtliche Türen in die Freiheit aufzuschließen. Aber wie war der Gefangene an
die Schusswaffe gekommen? Hatte er Helfer unter den Schließern gehabt? Warum
war der Ausbruch erst nach mehreren Stunden entdeckt und der gefesselte und
geknebelte Beamte nicht schneller in der Wäschekammer gefunden worden?
    Fragen
zu Sicherheitsmängeln in deutschen Gefängnissen wurden laut. Von
Personalknappheit war die Rede, von Überbelegung in den Zellen, von
Sparmaßnahmen und der daraus resultierenden Überarbeitung der Angestellten.
Schlussendlich wurde das Justizministerium unter Beschuss genommen. Mehr
Überwachung und mehr Sicherheit in deutschen Gefängnissen wurden gefordert.
    Über
Winters Gründe für den Ausbruch spekulierte der Artikel nicht. Man ging wohl
davon aus, dass die Aussicht, bis zum Tode hinter Gefängnismauern weggesperrt
zu werden, Motiv genug sei. Zumal für einen Teufel in Menschengestalt.
    Jule
schenkte sich Kaffee nach und biss in die letzte Brötchenhälfte. Sie dachte an
Michaels Warnungen von gestern. Heute, im Lichte des strahlenden Wintermorgens,
verspürte sie keinerlei Angst. Der Ausbrecher konnte überall sein. Warum gerade
hier auf dem Campingplatz?
     
    Kurze Zeit später absolvierte
sie ihre täglichen physiotherapeutischen Übungen im Anbau des Caravans. Wie
jeden Morgen fühlte sich ihr Rücken steif wie ein Brett an. Ob er je wieder so
biegsam wie vor dem Unfall werden würde? Die Ärzte hatten es zumindest nicht
ausgeschlossen. Fetzen eines Bildes schossen ihr unvermittelt durch den Kopf:
der Aufprall des Wagens gegen den Baumstamm. Wie ihr Oberkörper erst nach
vorne, dann zurück gerissen wurde. Der weiße Ballon des Airbags, der sie
kurzzeitig auf dem Fahrersitz einklemmte und alle Sicht nahm.
    Die
Erinnerung war völlig geräuschlos. Still. Wie eine Stummfilmszene. Kein
Bremsenquietschen wie in der Realität, kein ohrenbetäubendes Krachen, kein
Jammern des Beifahrers. Trotzdem fühlte sie sich echt an, schrecklich echt.
    Jule
hielt mitten in der Bewegung inne. Ihr Herz raste, die Handflächen waren feucht
geworden. Nicht, dachte sie. Aufhören. Sie zwang sich zu tiefen, gleichmäßigen
Atemzügen. Langsam ließ die Panik nach.
     
    Draußen blendete sie das Weiß
des Schnees, der alles bedeckte. Die Luft war trotz des blauen Himmels
schneidend
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