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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Autoren: Allen Frances
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    VOM SCHAMANEN ZUM SEELENKLEMPNER, VOM DSM ZUR ÜBERDIAGNOSTIK
    Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht,
    aber sie reimt sich.
    Mark Twain
 
    Der Mensch ist das benennende Tier – wir können nicht anders, als allem, was uns unter die Augen kommt, ein Etikett anzuheften. Das ist seit der Schöpfungsgeschichte, als Adam seine Herrschaft über Pflanzen und Tiere errichtete, indem er ihnen Namen gab, 1 unsere besondere Begabung und manchmal auch unser Fluch. Diagnostischer Überschwang ist unser Erbteil: Wir haben ein starkes Bedürfnis, Muster zu erkennen – und den Löwen vom Lamm zu unterscheiden, Essen von Gift, Freund von Feind.
    Beinahe ebenso wichtig war uns seit jeher die psychiatrische Diagnose. Abnormes Verhalten war immer eine Gefahr, weil wir auf Eintracht innerhalb der Sippe sehr angewiesen sind. Um Aktionen, die das Individuum und die soziale Gemeinschaft bedrohen (ob in der Savanne oder im Büro), in den Griff zu bekommen, brauchen wir einen Namen und eine Erklärung. Die Benennung war und ist eine beliebte Möglichkeit, Unsicherheit zu verringern und – häufig zu Unrecht – ein Gefühl von Beherrschbarkeit zu vermitteln. Die Suche nach Mustern erleichtert es, wirre Erfahrungen zu Einheiten zu ordnen, mit denen sich besser umgehen lässt – eine ungenaue und unzutreffende Benennung oder Erklärung für psychische Störungen ist immer noch besser als gar nichts.
    Und mit der bloßen Benennung gibt der Mensch sich ja nicht zufrieden. Die logischen nächsten Schritte bestehen darin, die Namen zu Kategorien und die Kategorien zu einer Klassifizierung zusammenzufassen und schließlich eine Erklärung dafür zu suchen, wie diese Ordnungssysteme zustande kommen. Selbstverständlich wichen die Erklärungen im Lauf der Zeit beträchtlich voneinander ab. Einst waren sie Sache der Religion und der Folklore, während wir heute, aus der gleichen Neugier und dem gleichen Ordnungsbedürfnis heraus, nach wissenschaftlichem Verständnis streben. Was uns heute als fantasievolle Mythen erscheinen, war einst die beste zeitgenössische Wissenschaft, und unsere heutige beste Wissenschaft wird uns ihrerseits in nicht allzu ferner Zukunft als fantasievoller Mythos erscheinen.
    Die Benennung psychischer Störungen hat sich im Lauf der Zeit verändert, weil wir je nach unserer kulturellen Prägung, der Luft, die wir zeit unseres Lebens geatmet haben, die unterschiedlichsten Gestalten wahrnehmen – wir erkennen Elefanten in Wolken, wenn wir nach ihnen Ausschau halten, aber ebenso gut könnten wir, wenn sie besser in unsere Vorstellungen passen, Wale oder Kaninchen sehen: Die Wolke braucht sich nicht zu ändern, damit wir verschiedene Formen in ihr entdecken. Die psychiatrische Diagnostik sieht etwas, das existiert, aber die Form folgt dem, was wir zu sehen erwarten. Weil es nicht den einen richtigen Weg gibt, setzen sich die jeweiligen Moden durch. Der Schamane früherer Zeit hatte für die Störungen, die er beobachtete, verschiedene Namen und Erklärungen, die ihm dieselben Dienste leisteten wie dem modernen Seelenklempner die heutigen Namen und Erklärungen. Um die gegenwärtigen Methoden psychiatrischer Diagnostik zu verstehen, müssen wir eine kurze Zeitreise unternehmen.
    Der Schamane und die Geisterwelt
    Die Psychiatrie erscheint uns als junger Berufsstand, kaum zweihundert Jahre alt, dabei könnte man ihn mit Fug und Recht als den ältesten bezeichnen. Schon zum Berufsbild des Schamanen oder Medizinmannes gehörte die Diagnostizierung und Behandlung von Geisteskranken. Er (häufig sie) war der erste bezahlte Experte des Stammes, der einzige Mensch, der über das in Gemeinschaft verrichtete Jagen und Sammeln hinaus ein Fachgebiet hatte. Während alle anderen unterwegs waren, um Nahrung zu beschaffen, blieb der Schamane zu Hause, betreute die Kranken und wandte seine Zauberkunst an, um die Ursachen zu ergründen und Heilkuren gegen die Krankheiten des Geistes und des Körpers durchzuführen.
    Natürlich musste er, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auch allerlei andere Aufgaben erledigen. Das Wort »Schamane« bedeutet »einer, der weiß«, und er musste in der Tat viel wissen. 2 Er hielt die Welt im Gleichgewicht und sorgte für üppigen Wildbestand. Er konnte die Vergangenheit aufdecken und die Zukunft vorhersagen. Er prägte sich die Geschichten vom Ursprung der Erde und von der Herkunft des Stammes ein. Er besaß die heiligen Gegenstände, kannte die Heilkräuter und konnte Arzneien daraus herstellen. Er
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