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Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben
Autoren: Heike Dorsch
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den Rücken klopft und
etwas sagt. Ein Band, eine Zugehörigkeit – das strahlte dieser Moment in meinen
Augen aus.
    Zugleich war der Tag eine irritierene Erfahrung: Am Anfang der
Rekonstruktion war ich noch darauf bedacht gewesen, ihm nicht zu nahe zu
kommen. Doch nachdem ich ihm in die Augen geschaut und nichts darin entdeckt
hatte – und ich selbst keine Wut, keinen Hass, keine Furcht empfand, konnte ich
sogar an ihm vorbeigehen. Am Ende des Tages war es mir sogar egal gewesen, wo
er gerade war. Immerhin, ich habe keine Angst mehr vor diesem Mann, der Stefan
und mir einmal Pampelmusen schenkte.
    Am Pier in Taiohae steht seine Familie. Sie mustert mich genauso wie
ich sie. Arihano sieht exakt aus wie sein Vater. Unglaublich, die gleichen
Gesichtszüge. Er und seine Schwester fragen sich wahrscheinlich: Wie sieht die
Freundin eines Vergewaltigers aus? Man merkt ihnen an, dass sie Arihano
glauben. Er ist ihr Kind, ihr Bruder – was erwarte ich? Es ist Kälte, die ich
in ihren Blicken spüre: Sie haben mich verurteilt, für was auch immer.
    Mittwoch, 25. April
    In zwei Stunden werden wir uns auf den Weg machen, um
zurück nach Tahiti zu fliegen. Ich setze mich auf einen Poller an der Mole im
Hafen, vor mir das Meer, die Bucht von Taiohae, in der sechzehn Weltumsegler
ankern. Jedes einzelne Boot habe ich gezählt.
    Nie hatte ich Zeit gehabt, mich richtig von der Baju zu verabschieden. Die Schlüssel von unserem einstigen Zuhause habe ich
mitgebracht, halte sie in meinen Händen. Ich will sie ins Meer werfen, um mich
auf diese Weise von dem Katamaran loszusagen, von den siebzehn gemeinsam
verbrachten Jahren mit Stefan. Ich schaffe es nicht. Ich kann nicht loslassen.
Ich zittere am ganzen Körper, vor Schmerz, vor Trauer. Dann entdecke ich einen
Fregattvogel, der über mir kreist. »Wunderschöne Tiere«, sagte Stefan jedes
Mal, wenn wir einen sahen. »Diese Riesenspannweite der Flügel, so lang und so
schmal, unverkennbar.« Ich sehe dem Vogel zu, so wie Stefan einem solchen immer
zugesehen hat. Eine Ewigkeit. Stefan, wo bist du? Wie geht es dir? Denkst du
manchmal an mich? Warum bist du gegangen, ohne dich zu verabschieden? Der
Fregattvogel schwebt jetzt über der Bucht, kommt aber wieder zu mir zurück. Ich
schaue auf meine Schlüssel in der Hand, schaue hinauf in den Himmel, und dann
sehe ich sie: Freunde sind gekommen, nun fliegen sie zu viert im Kreis, fliegen
hin und her in verschiedenen Formationen. Stefan war nie ein Mensch gewesen,
der gern allein war.
    Ich erhebe mich von dem Poller, umfasse die Schlüssel noch einmal
fest – und überlasse sie dem Meer. Ich beobachte, wie sie in der großen blauen
Tiefe verschwinden. Die vier Vögel fliegen gemeinsam hinaus aufs offene Meer.
Ich weiß jetzt: Es geht ihm gut, wo immer er ist.
    Donnerstag, 26. April
    Von morgens neun bis abends neun Uhr haben wir die Gegenüberstellung
im Büro des Richters im Gerichtsgebäude von Papeete; es geht um die Klärung von
vielen Einzelfragen. Beide Anwälte, zwei Übersetzer (neben Joseph auch die Übersetzerin
für Arihano, der von seinem Recht Gebrauch macht, nur Marquesanisch zu reden),
vier SEK -Männer, Arihano, der Richter, eine
Sekretärin und ich drängen sich in dem kleinen Büro. Am Ende des Tages mache
ich das, was ich schon die ganze Zeit will: Ich sehe Arihano in die Augen. Aber
nicht nur flüchtig. Ich lehne an der Tür des Büros, er sitzt auf dem Stuhl. Er
hat gemerkt, dass ich seinen Blick suche. Er schaut zu mir, kann aber nie lange
meinem Blick standhalten. Das Spiel wiederholt sich ein paarmal. Ich entdecke
jetzt viel Leid in seinen Augen. Mehr, als ich begreifen kann. In diesem Moment
wird mir klar, dass in seinem Leben einiges schiefgelaufen sein muss. Ich sehe
in seinen dunklen Augen, dass er versteht, was er angerichtet hat, dass es ihm
leidtut, was passiert ist. Ich sehe, wie er begriffen hat, wie wichtig mir die
Wahrheit ist, dass er sie aber wohl nie sagen wird. Aber den Wunsch, mich zu
töten, den sehe ich nicht mehr. Er sagt, dass er meine Wut akzeptiert. Ich
sage, ich würde mir wünschen, er würde die Wahrheit äußern, damit ich das
Geschehen für mich abschließen kann. Arihanos Antwort: »Manchmal muss man auf
dieser Erde lügen, damit einem jemand glaubt.«
    Vielleicht lebt Arihano in seiner eigenen Welt, wie auch Stefan so
oft in seiner Welt gelebt hat, und glaubt wirklich
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