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Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben
Autoren: Heike Dorsch
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»idyllisch« wie das
letzte Mal, als ich hier war. Man hört keinen Wasserfall, der Bach ist
ausgetrocknet, viel ist zugewachsen. Die Natur zeigt, dass Zeit vergangen ist,
sich Dinge ändern. Für mich nicht.
    Die Gendarmen bereiten den Tatort jetzt so vor, wie sie ihn damals
vorgefunden haben. Ein Kreis mit Steinen, der die Feuerstelle markiert, wird
gebaut, Schnüre werden gezogen, wo die Wasserlinie war …
    Ich sehe und höre, wie Arihano die Szene der Vergewaltigung
beschreibt. Stefan soll ihn am linken Fußknöchel vierzig Zentimeter hoch am
Baum festgebunden haben. Arihano Haiti liegt jetzt auf dem Bauch, Hände auf dem
Rücken gefesselt. Angeblich konnte er sich nicht wehren, als Stefan das alles
mit ihm gemacht haben soll. Er ist ein Muskelprotz, wiegt hundert Kilogramm,
ist 1,86 Zentimeter groß und hat viel Kraft. Viel mehr Kraft, als Stefan sie
hatte. Nichts passt zusammen. Die Beweise sprechen gegen ihn. Trotzdem beharrt
er auf dieser Version: Vergewaltigung. Er konnte sich befreien, sah die Waffe und
feuerte einen Schuss in die Luft. Stefan soll zu der Zeit oben am Hang
gestanden haben, zwei, drei Meter von Arihano entfernt, um Holz für das Feuer,
das gegen Moskitos brannte, zu suchen. Arihano befreit sich von seinen Fesseln,
greift zur Waffe und bedroht Stefan. Stefan will sich umdrehen und gehen, doch
Arihano schießt ihm in den Kopf. Stefan rollt den Abhang hinunter, direkt ins
Feuer. Arihano legt Holz nach, setzt sich drei Meter weiter weg hin und denkt
nach. Er sagt immer wieder, dass er den Kopf mit einem Stück Holz weggeschlagen
hat. Die Bewegung, die er dazu macht, erinnert mich an einen Golfschwung. Der
Richter fragt nach Details zum Zustand des Kopfes. Ich bin nicht hier. Nur mein
Körper ist anwesend. Zerstückelt will er Stefan nicht haben, behauptet Arihano
Haiti. Die Knochen, die gefunden wurden, deuten auf Schnitte hin.
    Alles, was er nachspielt, ist seine Version. Heute wird er nicht die
Wahrheit sagen. Das spüre ich.
    Danach begeben wir uns zu dem Ort, zu dem Baum, an den er mich
gefesselt hatte. Eine Polizistin ist für wenige Minuten Heike Dorsch. Einmal
nur spiele ich mich selbst, weil die Beamtin nicht weiß, wie sie sich verhalten
soll. Ein Übersetzungsfehler. Noch einmal sehe ich in dunkle, große Augen, noch
einmal in den auf mich zielenden Gewehrlauf – obwohl nicht Arihano Haiti mir
gegenübersteht, sondern ein lokaler Polizist. Meine Augen müssen meine Angst
widerspiegeln, denn sofort greift der Richter ein. Das ist auch gut so. In der
Sekunde, in der ich diesen Gewehrlauf gesehe habe, war ich wieder in der
schrecklichen Nacht. Der Flash hat nur kurz gedauert, aber für mich war es lang
genug.
    Als wir abends erschöpft und verschwitzt wieder im Speedboot sitzen,
denke ich: Es ist vorbei. Die Rekonstruktion des Tathergangs, die für mich zu einem
Ziel geworden war, ist vorbei. Nun ist es getan, und ich weiß auch nicht mehr.
Um mich herum reden alle, lachen, für sie ist ein langer, anstrengender
Arbeitstag zu Ende. Ich fühle mich unglaublich einsam. Abermals laufen Tränen
mein Gesicht hinunter, während wir immer wieder ins Wellental krachen. Ich muss
mich festhalten, damit ich nicht vom Sitz falle.
    Ich glaube an den Kopfschuss, daran, dass Stefan nicht leiden
musste. Ich glaube, es gab keine Vergewaltigung, ich glaube, es gab eine Art
Kampf, und ich weiß, dass Stefan Angst hatte. Die exakte Todesursache will man
aber noch ermitteln, in den Speziallabors in Frankreich werden dafür
Untersuchungen vorgenommen. Fakt ist, dass Stefan tot war, bevor Arihano Haiti
zu mir kam, zur Baju . Die Polizei ist sich sicher –
wäre die Aquamante nicht in der Nähe gewesen, er wäre
mir gefolgt und hätte mich getötet. Er selbst sagt, er habe mich beobachtet,
wie ich zur Yacht schwamm.
    Â»Heike!« Jemand ruft meinen Namen. Ich zucke zusammen. Es ist nur
meine Anwältin. Sie will mich aus meinen schweren Gedanken herauszuholen. Es
gelingt nicht. Ich reibe zwei grüne Limetten, die ich an einem Baum gepflückt
habe, aneinander, rieche daran. Aber sofort schweife ich wieder zu dem ab, was
ich gerade erlebt habe. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Arihano Haiti sich
bei mir entschuldigt. Er hat sich bei der Polizistin, einer Marquesanerin,
entschuldigt, als er sie an den Baum fesselte. Das registriere ich auch später,
als Arihano im Polizeiauto sitzt und die Beamtin ihm auf
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