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Blauwasserleben

Blauwasserleben

Titel: Blauwasserleben
Autoren: Heike Dorsch
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diesem Grund nicht traf und Stefan ihn deswegen ausgelacht
haben soll. Für mich eine plausible Möglichkeit. Stefan mit seiner
Leichtigkeit, seiner Fröhlichkeit und ohne Gespür für Gefahren kann die Lage
total falsch eingeschätzt haben. Vielleicht hat er grinsend gesagt: »Oh Mann,
die Ziege hättest du doch treffen müssen!« Oder: »Lass mich mal, du kriegst das
eh nicht hin.« In seiner Männlichkeit verletzt, durch Sprachprobleme noch
gesteigert, rächt sich Arihano, verliert die Beherrschung – aber was wollte er
mit mir? Nach Aussage von Arihano war sein Verhalten mir gegenüber eine
»pädagogische Erziehungsmaßnahme«. Ich sollte das empfinden, was Stefan ihm
angetan hat.
    Ich habe viele offene Fragen. Die wichtigsten betreffen das
Tatmotiv. Warum hat er mich nicht getötet? Warum nicht vergewaltigt? Es sind
Fragen, die selbst der Richter nicht beantworten kann. Die Untersuchungen
können noch sehr lange dauern, das wird immer offensichtlicher.
    Weiterhin erfahre ich, dass die Familie des Täters glaubt, Stefan
habe ihn wirklich vergewaltigt. Ich habe plötzlich wieder Angst.
    Angst habe ich auch vor der Rekonstruierung selbst. Allmählich
begreife ich, was genau da ablaufen soll. Um nach Nuku Hiva zu gelangen, werde
ich mit Arihano zusammen in einem Flugzeug sitzen müssen. Natürlich wird er
Handschellen tragen und bewacht werden – doch wie werde ich reagieren? Selbst
die angebliche Tatwaffe wird in der Maschine mit uns reisen.
    Detailgetreu soll alles in der Hakatea-Bucht nachgeahmt und mit
Fotos und Videoaufnahmen dokumentiert werden. Gut, dass ich mich damit nicht in
Deutschland so intensiv befasst habe, sonst wäre ich kaum hier. Doch, natürlich
wäre ich hier.
    Der Richter wird sich, wie er mir nun erklärt, ein Bild von Stefan
machen, dazu wird er weltweit Freunde befragen. Ich soll ihm eine Liste
erstellen mit Namen von Menschen, die Stefan gut kannten, mit denen er
zusammengearbeitet hat, Menschen, die unter anderem bezeugen können, dass er
nicht schwul war. Ich kann nicht fassen, was hier geschieht.
    Donnerstag, 19. April
    Ãœber drei Stunden befragt mich auf richterliche Anordnung
ein französischer Psychologe: »Wie war Ihre Kindheit? Welche Werte wurden Ihnen
von Ihren Eltern vermittelt?« Aber es gibt auch Fragen zu Stefan und unserem
Sexualleben. Weiterhin will der Psychologe wissen: »Warum leben Sie noch, was
denken Sie? Was könnte das Tatmotiv sein?« Wenn ich das nur wüsste.
    Freitag, 20. April
    Vries und Daphne liegen jetzt in der Marina Taina, zehn Minuten
mit dem Bus Downtown von Papeete entfernt. Sie wollten, dass ich übers
Wochenende zu ihnen aufs Boot komme. Bei ihrem Anruf warnten sie mich vor: »Am
Horizont wirst du die Baju ankern sehen.«
    Der kleine weiße Bus, in dem nur Einheimische sitzen, hält direkt
vor der Marina.
    Als ich dann am Ende des Ankerplatzes den Katamaran aus Aluminium
erblicke, steigen abermals Tränen in mir auf. Ich setze mich auf den Steg und
muss daran denken, dass es doch nicht richtig sein kann, mir einfach mein
Zuhause so plötzlich wegzunehmen. Zum Glück erscheinen in diesem Moment Daphne
und Vries und nehmen mich in den Arm.
    Mit ihnen verbringe ich die nächsten zwei Tage. Ich erzähle ihnen,
dass Arihano das SOS -Signal gehört habe, mit dem
wir Stefan Mut machen wollten, als er die Tatwaffe zurück in das Haus seines
Onkels brachte. Er war also ganz in der Nähe gewesen.
    Wieder sprechen wir über das, was geschehen ist, zwischendurch soll
ich aber auch alles vergessen und ein bisschen das alte Blauwasserleben
erfahren. Wir setzen die Segel. Es ist das erste Mal danach. Die Bewegungen
eines Einrumpfboots sind ganz anders als bei einem Katamaran – ich registriere
es sofort. In dem Augenblick, in dem ich diese Erkenntnis wahrnehme, vermisse
ich Stefan. Ich vermisse unsere Baju . Ich blicke in
den Himmel, sehe das volle weiße Segel vor dem blauen Hintergrund im Wind
wehen, spüre die Wellen. Und da weiß ich: Ich werde wieder segeln, irgendwann,
irgendwo. Ich liebe die Freiheit auf dem Wasser. Eines Tages werde ich wieder
in See stechen. Arihano Haiti hat mir Stefan genommen, aber nicht meine Träume.
    Wellen brechen sich am Außenriff, die braunen Korallen sind direkt
unter der Wasseroberfläche zu sehen. Leuchtend weiße Strände mit Pfahlbauten,
Kokosnusspalmen wedeln im Wind. »Tod im
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