Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag
Autoren: N French
Vom Netzwerk:
Die Tür war leer, niemand stand da.
    Während draußen Bremsen quietschten, ereiferte Rosie sich laut.
    »Immer muss ich auf meine kleine Schwester warten!«
    »Du Ärmste«, meinte Hayley.
    »Sie ist eine solche Heulsuse. Das nervt!« Sie sagte das, weil sie das Gefühl hatte, dass es von ihr erwartet wurde. Man musste auf seine jüngeren Geschwister herabblicken, die Augen verdrehen und über sie herziehen.
    »Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Hayley mitfühlend.
    »Wo bleibt sie bloß?« Mit einem theatralischen Seufzer legte Rosie ihr Päckchen Süßigkeiten ab und ging zur Tür, um hinauszuspähen. Auf der Straße rauschten die Autos vorbei. Eine Frau in einem Sari ging vorüber, von Kopf bis Fuß in Gold-und Rosétöne und einen lieblichen Duft gehüllt, gefolgt von drei Jungs aus der nahe gelegenen höheren Schule. Die drei rempelten einander die spitzen Ellbogen in die Rippen.
    »Joanna! Joanna, wo bist du?«
    Sie merkte selbst, wie schrill und ärgerlich ihre Stimme klang, und dachte: Ich höre mich schon an wie meine Mum, wenn sie schlechter Laune ist.

    Hayley stand daneben und kaute schmatzend auf ihrem Kaugummi herum. »Wo ist sie denn hin?« Aus ihrem Mund tauchte eine blassrosa Blase auf, die sie aber gleich wieder einsaugte.
    »Sie weiß genau, dass sie bei mir bleiben soll!«
    Rosie lief zu der Ecke, wo sie Joanna zuletzt gesehen hatte, und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um. Sie rief erneut nach ihrer Schwester, wobei ihre Stimme von einem Lastwagen übertönt wurde. Vielleicht war Joanna über die Straße gelaufen, weil sie auf der anderen Seite eine Freundin entdeckt hatte. Ähnlich sah ihr das nicht. Sie war ein gehorsames kleines Mädchen. Fügsam, so sagte ihre Mutter immer.
    »Findest du sie nicht?« Hayley tauchte an ihrer Seite auf.
    »Wahrscheinlich ist sie ohne mich nach Hause«, meinte Rosie so lässig wie möglich. Trotzdem war der panische Unterton in ihrer Stimme auch für sie selbst nicht zu überhören.
    »Na dann, bis morgen.«
    »Bis morgen.«
    Sie versuchte, in ihrem normalen Tempo zu gehen, doch das funktionierte nicht. Ihr Körper ließ sie nicht ruhig bleiben, sodass sie schließlich in einen gehetzten Galopp verfiel. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. »So eine blöde Kuh!«, stieß sie immer wieder hervor, und dann: »Ich bringe sie um! Wenn ich sie sehe, dann …« Während sie auf wackligen Knien weiterlief, stellte sie sich vor, wie sie Joanna an den knochigen Schultern packen und schütteln würde, bis ihr der Kopf brummte.
    Zu Hause. Eine blaue Haustür und eine Hecke, die niemand mehr geschnitten hatte, seit ihr Vater gegangen war. Als sie stehen blieb, verspürte sie jenen leichten Anflug von Übelkeit, den sie immer empfand, wenn sie sich mit irgendetwas in Schwierigkeiten brachte. Sie betätigte den Klopfer, so fest sie konnte, weil die Klingel nicht mehr funktionierte. Und wartete. Lass sie da sein, lass sie da sein, lass sie da sein! Die Tür ging auf,
und vor ihr stand ihre Mutter, noch im Mantel. Sie war wohl gerade erst aus der Arbeit gekommen. Einen Moment sah sie Rosie an, dann wanderte ihr Blick ein Stück tiefer, auf den leeren Platz neben ihr.
    »Wo ist Joanna?« Die Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Rosie registrierte die plötzliche Anspannung in den Zügen ihrer Mutter. »Rosie? Wo ist Joanna?«
    So leise, dass sie es selbst kaum hörte, antwortete sie: »Vorhin war sie noch da. Es ist nicht meine Schuld. Ich dachte, sie wäre schon vorausgegangen.«
    Ehe sie es sich versah, hatte ihre Mutter sie auch schon an der Hand gepackt, und sie liefen gemeinsam den Weg zurück, den Rosie gekommen war: die Straße entlang, in der sie wohnten, und dann vorbei am Süßwarenladen, vor dem ein paar Kinder herumhingen, vorbei an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht und dem leeren Lächeln und um die Ecke, hinaus aus dem Schatten ins gleißende Licht. Obwohl Rosie bereits Seitenstechen hatte, liefen sie immer weiter, und ihre Füße trommelten über die Ritzen ohne haltzumachen.
    Die ganze Zeit hörte sie über alle anderen Geräusche hinweg – das laute Pochen ihres Herzens und das asthmatische Rasseln ihres Atems – die Rufe ihrer Mutter: »Joanna? Joanna? Wo bist du, Joanna ?«
     
    Deborah Vine hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, als wollte sie den herausströmenden Worten Einhalt gebieten. Durch das Fenster, das auf die Rückseite des Gebäudes hinausging, sah der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher