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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag
Autoren: N French
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ihn ziemlich mitgenommen aussehen. Seine braunen Augen waren rot gerändert und wirkten entzündet. Er machte einen benommenen Eindruck.
    »Ich war unterwegs«, erklärte Vine ungefragt. »Ich wusste nichts davon. Ich habe es erst heute früh erfahren.«
    »Können Sie mir sagen, wo Sie waren, Mr. Vine?«
    »Unterwegs«, wiederholte er. »Meine Arbeit …« Er hielt inne und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich
bin Handelsvertreter. Ich verbringe viel Zeit auf der Straße. Was hat das mit meiner Tochter zu tun?«
    »Es geht lediglich darum zu klären, wo Sie waren.«
    »Ich war in St. Albans. Dort gibt es ein neues Sportzentrum. Brauchen Sie die genauen Zeiten? Brauchen Sie Beweise?« Seine Stimme klang plötzlich schärfer. »Ich war nicht hier in der Nähe, falls es das ist, was Sie denken. Was hat Debbie über mich erzählt?«
    »Ich hätte tatsächlich gern die exakten Zeiten.« Tanner behielt seinen ruhigen Ton bei. »Und die Namen sämtlicher Personen, die Ihre Angaben bestätigen können.«
    »Was glauben Sie eigentlich? Dass ich sie entführt und irgendwo versteckt habe, weil Debbie nicht zulässt, dass die Mädchen bei mir übernachten, und die beiden gegen mich aufhetzt? Oder gar, dass ich …« Er konnte die Worte nicht aussprechen.
    »Das sind reine Routinefragen.«
    »Für mich nicht! Mein kleines Mädchen ist verschwunden, mein Baby!« Er sackte in sich zusammen. »Natürlich werde ich Ihnen die gottverdammten Zeiten nennen. Sie können sie gern überprüfen. Aber Sie vergeuden Ihre Zeit mit mir, und während dieser ganzen Zeit suchen Sie nicht nach ihr.«
    »Wir suchen sehr wohl«, widersprach Langan. Und zwar schon seit siebzehneinhalb Stunden, ging ihm durch den Kopf. Nein, inzwischen sind es schon achtzehn. Sie ist erst fünf Jahre alt und seit achtzehn Stunden verschwunden. Er starrte den Vater an. Man konnte nie wissen.
     
    Später kauerte Richard Vine neben dem Sofa, auf dem sich Rosie in eine Ecke drückte. Sie trug noch ihren Schlafanzug und die Zöpfe vom Vortag, auch wenn sich diese immer mehr auflösten.
    »Daddy?«, fragte sie. Das war so ziemlich das Erste, was sie von sich gab, seit ihre Mutter am Vortag die Polizei angerufen hatte. »Daddy?«

    Er nahm sie in die Arme. »Hab keine Angst«, sagte er, »sie kommt bestimmt bald nach Hause. Du wirst schon sehen.«
    »Versprochen?«, flüsterte sie in seinen Hals hinein.
    »Versprochen.«
    Aber sie spürte seine Tränen auf ihrer Kopfhaut. Dort, wo der Scheitel war.
     
    Sie fragten sie, woran sie sich erinnere, aber sie konnte sich an nichts erinnern. Nur an die Ritzen im Pflaster, an die Süßigkeiten, die sie sich ausgesucht hatte, und an Joannas Rufe, sie solle doch auf sie warten. Und an ihre Wut auf die kleine Schwester, ihren Wunsch, sie möge anderswo sein. Die Polizeibeamten erklärten ihr, wie wichtig es sei, dass sie ihnen sämtliche Leute, die sie auf dem Heimweg von der Schule gesehen habe, genau beschreibe. Sowohl diejenigen, die sie kannte, als auch solche, die sie nicht kannte. Dabei spiele es keine Rolle, ob ihr selbst etwas wichtig erscheine oder nicht: Es sei Aufgabe der Polizei, darüber zu entscheiden. Aber sie hatte niemanden gesehen, nur Hayley im Süßwarenladen und den Mann mit dem pockennarbigen Gesicht. Schatten schwirrten durch ihr Gehirn. Ihr war sehr kalt, obwohl draußen vor dem Fenster die Sonne schien. Sie steckte das Ende eines ihrer in Auflösung begriffenen Zöpfe in den Mund und saugte heftig daran.
     
    »Sagt sie noch immer nichts?«
    »Kein Wort.«
    »Sie glaubt, dass es ihre Schuld war.«
    »Die arme Kleine, wie soll sie nur damit leben?«
    »Schhh! Sprich nicht, als wäre es schon vorbei.«
    »Glaubst du wirklich, dass sie noch am Leben ist?«
     
    Sie zogen Linien und wanderten ganz langsam über das Brachland in der Nähe des Hauses, wobei sie sich hin und wieder bückten, um Dinge vom Boden aufzuheben und in Plastiktüten
zu stecken. Sie gingen von Tür zu Tür und zeigten den Leuten das Foto, das Joannas Mutter ihnen am Montagnachmittag gegeben hatte und das die Fünfjährige mit einem gerade geschnittenen Pony und einem gehorsamen Lächeln im schmalen Gesicht zeigte. Inzwischen hatte dieses Foto Berühmtheit erlangt, denn auch die Zeitungsleute hatten es in die Finger bekommen. Vor dem Haus drängten sich Journalisten, Fotografen, ein Fernsehteam. Aus Joanna wurde »Jo« oder – noch schlimmer – »die kleine Jo«, als wäre sie die kindliche, fast schon heilige Heldin
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