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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag
Autoren: N French
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Stoppelbart hatte, tat Rosie, als machte ihr das nichts aus. Bei ihrem Vater schüttete sie regelmäßig den Schnaps ins Spülbecken, obwohl sie genau wusste, dass es nichts nützen würde. Anlässlich der Beerdigung ihrer Großmutter trug sie ein Gedicht von Tennyson vor, sprach dabei aber so leise, dass kaum jemand ihre Worte verstehen konnte. Bald darauf schnitt sie sich die Haare kurz und begann sich mit dem Jungen zu treffen, in den sie so verliebt gewesen war, doch leider wurde er den Vorstellungen, die sie sich von ihm gemacht hatte, nicht gerecht.
    In der Schublade mit ihrer Unterwäsche bewahrte sie einen kleinen Stapel Computerausdrucke auf: Joanna mit sechs, sieben, acht, neun. Joanna mit vierzehn. Sie fand, dass ihre Schwester genau aussah wie sie . Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich deswegen noch schlechter.
     
    »Sie ist tot.« Deborahs Stimme klang ruhig, fast ausdruckslos.
    »Bist du die ganze Strecke gefahren, um mir das zu sagen?«
    »Ich dachte, wir beide wären uns zumindest das schuldig, Richard. Lass sie los.«
    »Woher willst du wissen, dass sie tot ist? Du lässt sie einfach im Stich!«
    »Nein.«
    »Weil du einen neuen Ehemann gefunden hast und jetzt …« Angewidert starrte er auf ihren schwangeren Bauch. »Jetzt bekommst du eine neue glückliche Familie.«
    »Richard.«
    »Und vergisst sie ganz und gar.«
    »Das ist nicht fair. Es ist nun schon zehn Jahre her. Das Leben muss weitergehen, und zwar für uns alle.«
    »Das Leben muss weitergehen . Willst du mir womöglich auch noch sagen, dass das Joannas Wunsch gewesen wäre?«

    »Joanna war fünf, als wir sie verloren haben.«
    »Als du sie verloren hast.«
    Deborah erhob sich: schlanke Beine auf hohen Absätzen und ein runder Bauch, über dem der Rock spannte. Er konnte ihren Nabel erkennen. Ihr Mund war ein schmaler, zitternder Strich. »Du Mistkerl!«, stieß sie hervor.
    »Und jetzt lässt du sie im Stich.«
    »Soll ich mich auch noch kaputt machen?«
    »Warum nicht? Immer noch besser als ›Das Leben muss weitergehen‹. Aber keine Sorge, ich warte weiter auf sie.«
     
    Als Rosie zu studieren begann, nahm sie den Namen ihres Stiefvaters an und nannte sich von nun an Rosalind Teale. Ihrem Vater sagte sie nichts davon. Sie liebte ihn nach wie vor, auch wenn ihr sein chaotischer, niemals nachlassender Kummer Angst machte. Sie wollte nicht, dass irgendein Kommilitone zu ihr sagte: »Rosie Vine? Warum kommt mir der Name nur so bekannt vor?« Obwohl damit immer weniger zu rechnen war. Joanna war mit der Vergangenheit verschmolzen. Sie war nur noch ein Hauch von Erinnerung, eine in Vergessenheit geratene Berühmtheit, sozusagen eine Eintagsfliege. Rosie fragte sich manchmal, ob sie ihre Schwester womöglich nur geträumt hatte.
     
    Deborah Teale – ehemals Vine – betete insgeheim voller Inbrunst darum, einen Sohn zu bekommen und keine Tochter. Trotzdem erblickten zuerst Abbie und dann Lauren das Licht der Welt. Sie saß nachts über ihre Körbe gebeugt, um sie atmen zu hören. Sie hielt sie ständig an den Händen und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Die beiden erreichten Joannas Alter, überholten sie und ließen sie hinter sich zurück. Die Schachteln mit Joannas Sachen standen weiterhin ungeöffnet auf dem Dachboden.

     
    Der Fall wurde nie wirklich abgeschlossen. Niemand rang sich zu dieser Entscheidung durch. Dennoch gab es immer weniger zu berichten. Die zuständigen Beamten waren mit anderen Fällen beschäftigt. Besprechungen fanden nur noch sporadisch statt. Irgendwann wurden sie mit anderen Besprechungen zusammengelegt, bis der Fall schließlich überhaupt keine Erwähnung mehr fand.
     
    Rosie, Rosie! Warte auf mich!

1
    E s war kurz vor drei Uhr morgens. Vier Personen gingen um diese Zeit über den Fitzroy Square. Ein junges Paar trotzte eng aneinandergeschmiegt dem Wind. Die beiden kamen aus Richtung Soho, wo sie einen Nachtklub besucht hatten. Für sie näherte sich der Sonntagabend allmählich seinem Ende. Obwohl sie es einander nicht eingestanden hatten, zögerten sie den Moment hinaus, in dem sie entscheiden mussten, ob sie in getrennte Taxis oder in ein gemeinsames steigen wollten. Eine dunkelhäutige Frau, die einen braunen Regenmantel und einen transparenten Plastikhut trug, dessen Bänder sie unter dem Kinn fest zusammengebunden hatte, schlurfte entlang der Ostseite des Platzes in Richtung Norden. Für sie war bereits Montagmorgen. Sie war unterwegs in ein Büro an der Euston Road, um dort in aller
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