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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag
Autoren: N French
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zu: Nach einem kleinen Vorfall, der im Grunde kaum die Bezeichnung »Vorfall« verdiente, galt es, ein Formular auszufüllen.
    Während Frieda ihren Weg fortsetzte, hatte sie plötzlich die Worte ihrer Mutter im Ohr. Es hätte nicht geschadet, hallo zu
sagen, oder? Aber was wusste ihre Mutter schon? Das war einer der Gründe, warum sie diese Spaziergänge unternahm: damit sie nicht reden, sich niemandem präsentieren musste. Sie wollte nicht angestarrt und beurteilt werden. Um diese Zeit wollte sie einfach nur nachdenken oder aber jeden Gedanken ausblenden. In solchen Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte, genoss sie es, endlos dahinzumarschieren und auf diese Weise das ganze Zeug aus ihrem Kopf herauszubekommen. Eigentlich sollte das ja im Schlaf passieren, aber bei ihr funktionierte das nicht. Da brachte es auch kaum etwas, wenn sie liegen blieb und doch von Zeit zu Zeit ein wenig einnickte.
    Sie überquerte die Gray’s Inn Road, wo es weitere Busse und Taxis gab, und nahm dann eine Abkürzung durch eine schmale Gasse, die so verlassen wirkte, dass man hätte glauben können, die Welt hätte sie vergessen.
    Als sie in die King’s Cross Road einbog, sah sie sich plötzlich mit zwei Jungs im Teenageralter konfrontiert. Die beiden trugen Kapuzenpullis und weite Jeans. Einer von ihnen sagte etwas zu ihr, das sie nicht recht verstand. Sie starrte ihn an, woraufhin er den Blick abwandte.
    Wie dumm von mir, schalt sie sich selbst. Das war wirklich dumm gewesen. Eine der wichtigsten Regeln für solche Märsche durch London lautete: keinen Augenkontakt aufnehmen! Das konnte als Herausforderung aufgefasst werden. Dieses Mal hatte der Betreffende einen Rückzieher gemacht, aber es reichte schon ein Einziger, der anders reagierte.
    Fast schon automatisch schlug Frieda einen Weg ein, der von der Hauptstraße wegführte und dann wieder in sie einmündete, um kurz darauf erneut wegzuführen. Für die meisten Leute, die dort arbeiteten oder mit dem Auto durchfuhren, war dies nur ein hässlicher und unbedeutender Teil Londons: Bürogebäude, Wohnungen, ein Eisenbahndurchstich. Frieda jedoch folgte dem Lauf eines alten Flusses. Sie fühlte sich seit jeher von ihm angezogen. Einst war er durch Felder und Obstgärten
zur Themse hinuntergeflossen. Menschen hatten an seinem Ufer gesessen, um sich auszuruhen oder zu fischen. Was wäre jenen Männern und Frauen, die damals an warmen Sommerabenden dort saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen, wohl durch den Kopf gegangen, wenn sie in der Lage gewesen wären, die Zukunft vorherzusehen? Der Fluss war zu einem Müllabladeplatz verkommen, einer schmutzigen Kloake, verstopft mit Fäkalien und Tierkadavern und all den anderen Dingen, bei denen die Menschen sich nicht die Mühe machten, sie anderweitig zu entsorgen. Am Ende war er zugebaut worden und in Vergessenheit geraten. Wie konnte ein Fluss in Vergessenheit geraten? Wenn Frieda hier vorbeikam, blieb sie stets an einem Metallrost stehen, durch den aus der Tiefe immer noch das Rauschen des Flusses heraufdrang – fast wie ein Echo aus der Vergangenheit. Und hatte man diese Stelle hinter sich gelassen, konnte man zwischen den Ufern, die zu beiden Seiten anstiegen, dahinspazieren. Hin und wieder erinnerte sogar noch ein Straßenname daran, dass es hier früher einmal Kais gegeben hatte, an denen Lastschiffe entladen wurden, und noch früher Uferböschungen, an deren grasbewachsenen Hängen die Leute saßen und einfach nur zusahen, wie das kristallklare Wasser zur Themse floss. Das war London: Dinge, gebaut auf Dingen, gebaut auf Dingen, gebaut auf Dingen, von denen eines nach dem anderen in Vergessenheit geraten war, aber dennoch eine Spur hinterlassen hatte, und sei es nur ein Wasserrauschen, das man durch einen Metallrost hören könnte.
    War es ein Fluch, dass die Stadt so viel von ihrer Vergangenheit zudeckte, oder konnte eine Stadt nur auf diese Weise überleben? Einmal hatte Frieda davon geträumt, dass in London Gebäude, Brücken und Straßen abgerissen wurden, damit die alten, in die Themse mündenden Flüsse wieder ans Tageslicht geholt werden konnten. Aber was hätte das für einen Sinn? Wahrscheinlich blieben diese Flüsse ohnehin lieber, wie sie waren: verborgen, unbemerkt und voller Geheimnisse.

    Als Frieda die Themse erreichte, beugte sie sich wie immer über das Wasser. Meist konnte sie in der Dunkelheit gar nicht erkennen, wo der Zufluss aus seinem erbärmlichen kleinen Rohr quoll. So auch an diesem Morgen.
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