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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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Waschbecken, das seine eigenen schaurigen Stunden zählt. Die zugezogenen Jalousien auf der anderen Seite des Raumes, ein leichter Lichteinfall an der Stelle, wo Tracy immer am Fenster stand und Songs sang, die niemand sonst hörte.
    Er dreht sich um zu der Skulptur, die er gebaut hatte, während sie schlief. Das Phantom. Der Milch-Container-Kopf auf den gekrümmten Schultern, leicht zur Seite geneigt, scheint ihn neckisch anzuschauen. Die Wurstfachhüften sind so widernatürlich verdreht, als wollten sie im nächsten Moment einen Jig tanzen. Die Eierkartonfüße zu allem bereit. Die dünnen Metallarme suchend ausgestreckt.
    Suchend nach was?
    Vielleicht nach dem, was wir alle zu finden suchen. Das ganz große Gefühl – das Gefühl, das wir nicht wirklich erklären, nicht mit Namen benennen können.
    Freude.
    Liebe.
    Ein sauberes Gewissen.
    Ein Allheilmittel gegen die Leere.
    Eine warme Spachtelmasse, um all die Löcher zu schließen, die sich urplötzlich auftun.
    Diese Dinge mögen dem gesuchten Ziel durchaus nahekommen, aber wir wollen ja immer mehr. Es muss da draußen doch mehr geben. Es muss.
    Kostenloses Telefonieren in der Nacht und an Wochenenden.
    Diät-Pillen.
    Radikale Imams.
    Weg mit den Sorgenfalten.
    Selbst gebastelte Sprengsätze.
    BCC-Blindkopien.
    Wer nur ist dieses Phantom in der Küche?
    Vielleicht ist es Ross als kleiner Junge – just zu der Zeit, als die Mutter aus seinem Leben verschwand. Oder der große Poet, der er immer sein wollte – in Zeit und Raum gefroren, aber noch immer auf der Suche nach dem einen Song, der ihm seine Mutter wieder zurückbringen würde.
    Vielleicht ist es auch ein junges Ding, dessen Herz er brach, als er eine vernichtende Kritik schrieb. Vielleicht ist es Gloria – oder Desiree oder wie immer die Stripperin wirklich heißt –, die in der roten Sonne tanzt, ihre begnadeten Beine wieder geheilt, endlich zu der großen Pirouette fähig: Man höre nur das Raunen im Publikum! Vielleicht ist die Figur aber auch du. Vielleicht auch ich.
    Aber nun macht Ross etwas wirklich Seltsames: So behutsam wie ein Schulmädchen am letzten Schultag geht er hinüber zum großen Bett, hockt sich davor und zieht die schwarze Schuhkiste hervor, in der sich Glorias abgetragene Ballettschuhe verbergen. Er holt sie heraus, streift sie sich gewaltsam über die Füße, geht zur Tür, dreht – das Sicherheitsschloss ist bereits entriegelt – nur noch einmal den Türknopf und geht hinaus auf die Straße.
    Es gibt Tage, an denen die natürlichen Hemmschwellen außer Kraft gesetzt sind. An denen ein Kind, irgendwo in der Vorstadt, nachts nicht schlafen kann, und die Neugier an ihm nagt, und es aus seinen Decken steigt und im Dunkeln die richtigen Suchbegriffe eintippt und dann auf dem gespenstischen Monitor sieht, wie einem Mann mit einem langen Messer der Kopf abgehackt wird, komplett mit wackeliger Amateurkamera und den ungerührten bärtigen Zeugen im Hintergrund, ihren fremdartigen Kopfbedeckungen, ihren so gänzlich anderen Wegen zum Himmelreich.
    Welche Farbe hat Gott?
    Ob er wohl ein Videotelefon hat?
    Am windigen Strand von Venice lungern ein paar Liebespaare herum, die üblichen Gauner und Ganoven – dort, wo sie immer zusammenhocken –, der Mann mit dem Zuckerwattestand, der Mann mit den billigen Sonnenbrillen, die Frau, die gegen Bezahlung in deine Zukunft schaut. Wo bewegen wir uns hin? Wie wird das alles enden?
    Bleich und unrasiert stolpert Ross Klein die Rose Avenue hinunter, die weißen Ballettschuhe an den Füßen, so nackt wie am Tag seiner Geburt. Es ist ein geschäftiger Samstagnachmittag. Tausende Touristen sehen ihn kommen, wie eine Erscheinung, die sie irgendwo schon einmal gesehen haben, vielleicht nachts auf dem »Prophecy Channel« oder anderen religiösen Erbauungssendern. Sie ziehen ihre Kinder nah an sich heran. Sie machen den Weg frei, um ihn passieren zu lassen. Wer ist dieser geistesgestörte Nackte? Warum ist mir speiübel? Warum empfinde ich gleichzeitig dieses angenehme Kribbeln?
    Und langsam, scheinbar infiziert mit einem lebenden Virus, fangen die sonnengebräunten Zeitzeugen in ihren bunten Shorts und Badelatschen damit an, ihre Handys rauszuholen und zu knipsen. Hol die Digi raus und knips! Ruf die Polizei! Hol die Wegwerf-Kamera raus und knips knips knips! Halt diesen Moment fest! Stell das Foto ins Netz! Schick es an deine Freunde! Lad das Video auf YouTube hoch! Teil es mit allen, die’s sehen wollen!
    Er ist bereits auf halbem Weg zum Boardwalk,
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