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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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erst neun Jahre – ungefähr so alt wie der kleine Gangster heute im Park –, zu jung, um wirklich zu wissen, wozu ich mich bereit erklärte. »Leo ist ein sanftes Wesen«, hatte Daddy gesagt. »Er ist zu sanft für diese Welt, Dewotschka . Wir müssen ihn schützen, so gut wir können.« Ich hatte genickt, ohne so recht zu verstehen, dass Daddy mir gerade eine lebenslange Verpflichtung auferlegt hatte.
    Leo war nicht »behindert« auf die Welt gekommen. Er war wie jedes Kind gewesen, wenn nicht, zumindest aus Sicht meines Vaters, sogar besser. Leo war klug, unserem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und vor allem: der Erstgeborene. Daddy hatte ihm sogar seinen eigenen Namen gegeben. Offiziell hieß er Leonyd Balanchine jr.
    Als Leo neun war, war er mit meiner Mutter nach Long Island gefahren, um meine Großmutter mütterlicherseits zu besuchen. Meine Schwester und ich (zwei und sechs Jahre alt) hatten Angina und mussten zu Hause bleiben. Daddy hatte sich bereit erklärt, auf uns aufzupassen, obwohl ich bezweifele, dass es ein großes Opfer für ihn gewesen ist, da er mit Grandma Phoebe nie gut ausgekommen war.
    Der Anschlag hatte natürlich Daddy gegolten.
    Meine Mutter war auf der Stelle tot. Zwei Schüsse durch die Windschutzscheibe trafen ihre schöne Stirn und ihre honigduftenden kastanienbraunen Locken.
    Das Auto, das meine Mutter fuhr, prallte gegen einen Baum, Leos Kopf ebenfalls.
    Er überlebte, aber er verlor die Sprache. Konnte nicht mehr lesen. Nicht mehr gehen. Mein Vater schickte ihn in die beste Rehaklinik, gefolgt von der besten Schule für Lernbehinderte. Und Leo erholte sich wirklich großartig, aber er wurde nie wieder derselbe. Angeblich sollte mein Bruder immer das Auffassungsvermögen eines Achtjährigen behalten. Man sagte, er hätte Glück gehabt. Das stimmte. Auch wenn ich wusste, dass Leos Beschränkungen ihn frustrierten, erreichte er viel mit den geistigen Fähigkeiten, die er besaß. Er hatte eine Stelle, alle Kollegen sagten, er würde hart arbeiten, und er war Natty und mir ein guter Bruder. Wenn Nana starb, würde Leo unser Vormund werden – bis zu meinem achtzehnten Geburtstag.
    Ich hatte gerade die Käsesoße über die Nudeln gekippt und überlegte, ob ich die Polizei anrufen sollte (was auch immer das nützen würde), als sich die Wohnungstür öffnete.
    Leo kam in die Küche gestürzt. »Du machst ja Makkaroni, Annie!« Er schlang die Arme um mich. »Ich habe die beste Schwester der Welt!«
    Sanft schob ich ihn von mir. »Wo bist du gewesen? Ich war halb verrückt vor Sorge! Wenn du rausgehst, sollst du entweder Nana Bescheid sagen oder mir einen Zettel schreiben.«
    Leo fiel das Kinn hinunter. »Sei nicht böse, Annie! Ich war bei Verwandten. Du hast gesagt, es wäre in Ordnung, solange ich bei Verwandten bin.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Damit habe ich nur Nana, Natty und mich gemeint. Die nächsten Angehörigen. Das bedeutet –«
    Leo unterbrach mich. »Ich weiß, was das bedeutet. Aber von ›nächsten Angehörigen‹ hast du nichts gesagt.«
    Ich war mir da zwar ziemlich sicher, aber egal.
    »Jacks hat gesagt, es wäre okay für dich«, fuhr Leo fort. »Er hat gesagt, er wäre ein Verwandter, und dann wäre es okay für dich.«
    »Das kann ich mir vorstellen. War er der Einzige, mit dem du unterwegs warst?«
    »Fats war auch dabei. Wir sind zu ihm gegangen.« 
    Sergej »Fats« Meduwucha war der Cousin meines Vaters und der Inhaber des illegalen Cafés, das ich am Vorabend mit Gable besucht hatte. Fats war tatsächlich fett, was damals nicht häufig vorkam. Ich mochte ihn genauso gerne wie alle anderen in meiner weitläufigen Verwandtschaft, aber ich hatte ihm gesagt, dass Leo nicht in seinem Laden herumhängen sollte.
    »Was wollten sie von dir, Leo?«
    »Wir haben uns Eis geholt. Fats hat den Laden zugemacht, und wir sind losgegangen. Jacks hatte … wie heißen die noch mal, Annie?«
    »Gutscheine.«
    »Ja, genau!«
    Wie ich meinen Cousin kannte, waren die wahrscheinlich aus eigener Herstellung.
    »Ich hatte Erdbeereis«, fuhr Leo fort.
    »Hm.«
    »Sei nicht böse, Annie.«
    Leo sah aus, als würde er jeden Moment weinen. Ich holte tief Luft und versuchte, mich zusammenzureißen. Meine Geduld mit Gable Arsley zu verlieren war eine Sache, aber es war völlig inakzeptabel, mich in Gegenwart von Leo so gehenzulassen. »War das Eis denn lecker?«
    Leo nickte. »Dann waren wir … Versprich mir, dass du nicht sauer bist.«
    Ich nickte.
    »Dann sind wir zum Pool
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