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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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du ihm das Geld gegeben, nachdem er versucht hat, mich auszurauben?«
    »Weil er nicht so viel Glück hat wie wir, Natty. Und Daddy hat immer gesagt, dass wir auch an die denken sollen, denen es schlechter geht als uns.«  
    »Aber Daddy hat Menschen umgebracht, oder?«
    »Ja«, gab ich zu. »Daddy war kompliziert.«
    »Manchmal weiß ich nicht mal mehr, wie er aussah«, bemerkte Natty.
    »So wie Leo«, erklärte ich. »Genauso groß. Dasselbe schwarze Haar. Dieselben blauen Augen. Bloß waren Daddys Augen hart, und Leos sind weich.«
    In unserer Wohnung ging Natty auf ihr Zimmer, ich machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Ich war eine phantasielose Köchin, aber wenn ich nichts zubereitete, würde uns allen der Magen knurren. Außer Nana. Ihre Mahlzeiten wurden ihr von einer Krankenpflegerin namens Imogen per Schlauch zugeführt.
    Nach Packungsanweisung brachte ich exakt 1,4 Liter Wasser zum Kochen und gab dann die Makkaroni hinzu. Zumindest Leo würde sich freuen. Makkaroni mit Käse waren sein Leibgericht.
    Ich ging zu seinem Zimmer und klopfte an die Tür, um ihm die gute Nachricht zu überbringen. Er antwortete nicht, deshalb machte ich auf. Seit mindestens zwei Stunden hätte er von seinem Teilzeitjob in der Tierklinik zu Hause sein müssen, doch abgesehen von seiner Sammlung an Stofftierlöwen war sein Zimmer leer. Nur die Löwen sahen mich mit ihren leeren Plastikaugen fragend an.
    Ich ging zu Nana. Sie schlief, aber ich weckte sie auf.
    »Nana, hat Leo gesagt, wo er hinwollte?«
    Nana griff nach dem Gewehr, das sie unter dem Bett verwahrte, bis sie merkte, dass ich es war, die vor ihr stand. »Ach, Anya, du bist es. Du hast mir einen Schrecken eingejagt, Dewotschka .«
    »Tut mir leid, Nana.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Es ist nur, weil Leo nicht in seinem Zimmer ist. Ich wollte bloß wissen, ob er dir gesagt hat, wo er hinwill.«
    Nana dachte nach. »Nein«, sagte sie schließlich.
    »Ist er denn von der Arbeit nach Hause gekommen?«, fragte ich und versuchte, nicht ungeduldig zu klingen. Offenbar hatte Nana einen ihrer weniger guten Tage.
    Sie schien ewig darüber nachzudenken. »Ja.« Pause. »Nein.« Noch eine Pause. »Ich weiß nicht.« Schweigen. »Welcher Wochentag ist heute, Dewotschka ? Ich verliere die Zeit aus den Augen.«
    »Montag«, erwiderte ich. »Der erste Schultag, schon vergessen?«
    »Immer noch Montag?«
    »Er ist fast vorbei, Nana.«
    »Gut. Gut.« Sie lächelte. »Wenn noch Montag ist, dann kam heute dieser Bastard Jakov zu Besuch.« Das Wort »Bastard« meinte sie wörtlich. Jakov Piroschki war der uneheliche Sohn vom Halbbruder meines Vaters. Er nannte sich selbst Jacks und war vier Jahre älter als Leo. Ich hatte ihn noch nie besonders gemocht, seit er damals auf einer Familienhochzeit zu viel Smirnoff getrunken und versucht hatte, mir an die Brust zu grabschen. Ich war dreizehn gewesen, er fast zwanzig. Widerlich. Dennoch hatte Jacks mir immer ein bisschen leidgetan, weil alle Familienangehörigen auf ihn herabschauten.
    »Was wollte Piroschki?«
    »Nachgucken, ob ich schon tot bin«, sagte Nana. Lachend wies sie auf die billigen rosa Nelken, die in einer mit wenig Wasser gefüllten Vase auf der Fensterbank standen. Ich hatte sie noch nicht bemerkt. »Hässlich, was? Blumen sind heute so schwer zu bekommen, und er bringt mir solche mit? Na, wahrscheinlich ist es die gute Absicht, die zählt. Ist Leo vielleicht bei dem Bastard?«
    »Das ist nicht nett, Nana«, sagte ich.
    »Ach, Anyeschka, das würde ich doch nie in seiner Gegenwart sagen!«, gab sie entrüstet zurück.
    »Was soll Jacks denn von Leo wollen?« Soweit ich wusste, hatte Jacks meinen Bruder bisher entweder ignoriert oder regelrecht verachtet.
    Nana zuckte mit den Schultern, was ihr schwerfiel, da sie sich kaum noch bewegen konnte. Ihre Augenlider flatterten. Ich drückte ihre Hand.
    Ohne die Augen zu öffnen, brachte sie hervor: »Sag mir Bescheid, wenn du Leonyd findest.«
    Ich ging wieder in die Küche und kümmerte mich um die Makkaroni. Dann rief ich bei Leo auf der Arbeit an, um mich zu erkundigen, ob er noch dort sei. Man sagte mir, er sei wie immer um vier gegangen. Es gefiel mir nicht, dass ich nicht wusste, wo mein Bruder war. Auch wenn er neunzehn war, drei Jahre älter als ich, würde ich doch immer für ihn verantwortlich sein.
    Kurz bevor mein Vater ermordet wurde, musste ich ihm schwören, dass ich für meinen Bruder sorgen würde, sollte Daddy jemals etwas zustoßen. Damals war ich
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