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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart
Autoren: Gabrielle Zevin
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Ich zog den Kittel aus und legte ihn neben mich auf die Bank.
    »Anya, hast du Win schon kennengelernt?«, fragte Scarlet. Vorsichtig hob sie die Augenbrauen, damit ich wusste, dass er derjenige war, von dem sie mir erzählt hatte.
    »Vor dem Büro der Rektorin. Sie war gerade dabei, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen«, sagte Win.
    »Das tue ich öfter«, entgegnete ich und begann, den Gemüseeintopf auf, wie ich hoffte, damenhafte Art zu essen. Auch wenn mir schlecht von dem Geruch war, hatte ich doch einen Riesenhunger.
    Als es klingelte, zogen Win und Scarlet von dannen, und ich schlang den Rest hinunter, so schnell es ging. Win hatte seine Mütze auf dem Tisch liegenlassen.
    Als es zum zweiten Mal klingelte, kam er in den Speisesaal zurück.
    Ich hielt ihm seine Mütze entgegen.
    »Danke«, sagte er und wollte gehen, dann setzte er sich jedoch mir gegenüber auf den Stuhl. »Fand ich unhöflich, dich ganz allein zurückzulassen.« 
    »Schon gut. Du kommst zu spät.« Ich aß den letzten Bissen. »Außerdem bin ich gerne allein.«
    Win faltete die Hände vor dem Knie. »Ich habe jetzt eh Freiarbeit.«
    Ich sah ihn an. »Wie du willst.« Scarlet wollte was von ihm – nie im Leben würde ich mich auf einen Jungen einlassen, den sie mochte, egal wie schön seine Hände waren. Wenn es eins gab, was mein Vater mir beigebracht hatte, dann die Bedeutung von Loyalität. »Woher kennst du Scarlet?«
    »Aus Französisch«, sagte er und beließ es dabei.
    »So, ich bin fertig«, teilte ich ihm mit. Es war höchste Zeit, dass er sich auf den Weg machte.
    »Du hast was vergessen«, sagte er und zog mir das Haarnetz vom Kopf. Sein Daumen strich zart über meine Stirn, die Locken fielen herunter. »Das Haarnetz ist ja ganz nett, aber ich glaube, ohne bist du mir lieber.«
    »Oh«, machte ich. Ich merkte, dass ich rot wurde, und verbot es mir. Diese Flirterei ging mir langsam auf den Geist. »Warum bist du überhaupt hierhergezogen?«
    »Mein Vater ist die neue Nummer zwei in der Staatsanwaltschaft.« Es war bekannt, dass Staatsanwalt Silverstein nur eine Marionette war – zu alt und krank, um etwas zu bewirken. Der zweite Befehlshaber war in diesem Fall eigentlich der erste, nur dass er nicht den Aufwand betreiben musste, sich zur Wahl zu stellen. Es musste ziemlich schlecht laufen; wenn sogar jemand von außerhalb geholt wurde, ließ das auf einen größeren Umbruch schließen. Meiner Meinung nach konnte das nur gut sein, da es um die Stadt kaum noch schlimmer stehen konnte. Ich wusste nicht mehr genau, was mit der ehemaligen Nummer zwei geschehen war, aber wahrscheinlich war es das Übliche: Entweder war er unfähig gewesen oder ein Dieb. Möglicherweise beides.
    »Dein Vater ist der neue Oberbulle?«
    »Er meint, er würde hier richtig aufräumen«, sagte Win.
    »Viel Glück dabei«, gab ich zurück.
    »Tja, er ist wahrscheinlich ziemlich naiv.« Win zuckte mit den Schultern. »Hält sich für einen Idealisten.«
    »He! Ich denke, du hast gesagt, deine Familie wäre vom Land«, fiel mir ein.
    »Ist meine Mutter auch. Sie ist Agraringenieurin, hat sich auf Bewässerungssysteme spezialisiert. Im Grunde genommen ist sie eine Zauberin, die Getreide ohne Wasser wachsen lässt. Aber mein Vater war der Staatsanwalt von Albany.«
    »Das ist … Du hast mich angelogen!«
    »Nein, ich habe bloß darauf geantwortet, wonach du gefragt hast, nämlich woher ich die Schwielen an den Händen habe. Falls du dich noch erinnerst. Und die habe ich bestimmt nicht daher, dass mein Vater Staatsanwalt ist.«
    »Ich denke, du hast es mir nicht gesagt, weil du wusstest, wer mein Vater war und …«
    »Und was?«, hakte Win nach.
    »Vielleicht dachtest du, ich würde mich nicht mit einem Typ anfreunden wollen, dessen Familie auf der anderen Seite des Gesetzes steht als meine.«
    »Es waren zwei Königskinder und so weiter?«
    »Moment mal, ich habe nicht gesagt …«
    »Ich nehme es zurück. Und entschuldige mich, falls ich dich irregeführt haben sollte.« Win wirkte leicht belustigt. »Ist auf jeden Fall eine gute Theorie, Anya.«
    Ich sagte ihm, ich müsse jetzt zum Unterricht, und das entsprach der Wahrheit. Ich kam bereits fünf Minuten zu spät zur Amerikanischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
    »Bis dann«, sagte Win und tippte sich an die Mütze.

    An die Tafel hatte Mr. Beery geschrieben: Wer sich nicht an die Geschichte erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen. Ich war mir nicht sicher, wie das gemeint war: als
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