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Bittere Mandeln

Bittere Mandeln

Titel: Bittere Mandeln
Autoren: Sujata
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wie ich sie verbergen sollte. Natsumi hatte Tante Norie ganz automatisch angelächelt, doch mich strahlte sie an, als hätte sie eine lang verschollene Freundin wiedergefunden.
    »Courrèges?« hauchte Natsumi. Erst jetzt wurde mir klar, daß ihr verzückter Blick meinem Kleid galt.
    Ich nickte. »Es gehört meiner Mutter. Ich habe es bei meinem letzten Besuch zu Hause aus ihrem Schrank entführt.«
    »Natsumi-san, darf ich Ihnen meine Nichte Rei Shimura vorstellen? Rei ist in San Francisco geboren, lebt aber jetzt hier. Natsumi macht ausgesprochen jugendliche Blumenarrangements«, erklärte sie an mich gewandt.
    »Ich bin nicht sonderlich gut«, kicherte Natsumi. »Es heißt, ich lerne schon so lange, weil ich sehr langsam begreife.«
    »Unsinn! Sie haben ganz außergewöhnliche Blumenauslagen in Modeboutiquen arrangiert. Rei, du hast doch sicher das Schaufenster gesehen, das für Hanako fotografiert wurde«, sagte meine Tante.
    Da ich nicht in der Lage war, normales Erwachsenenjapanisch zu lesen, kaufte ich nur selten Frauenzeitschriften wie Hanako. Also lächelte ich nur höflich und fragte Natsumi, ob sie Mrs. Koda gesehen habe. Wenigstens konnten wir diesen Teil der Aktion hinter uns bringen, bevor wir die in Geschenkpapier verpackte Schere für Sakura Sato wieder abholten.
    »Ach, Koda-san! Ich habe auch schon nach ihr gesucht. Sie ist seit mindestens einer Stunde nicht mehr gesehen worden, aber sie muß hier irgendwo sein. Mit ihrem Stock kann sie nicht so weit gehen.«
    »Ist sie vielleicht bei dem Treffen, das im dritten Stock stattfindet?« fragte ich.
    »Das ist schon vorbei. Die Damen trinken gerade Tee im Restaurant«, sagte Natsumi.
    »Wo ist Sakura-san? Vielleicht kann sie uns helfen«, meinte Tante Norie.
    »Hm, sie ist wahrscheinlich noch im Unterrichtsraum im dritten Stock. Sie haben das Treffen für die Mitsutan-Ausstellung verpaßt, stimmt’s?«
    »Danke, Natsumi-san. Sagen Sie doch Takeo-san und Ihrem geschätzten Herrn Vater einen schönen Gruß. Komm, gehen wir hoch in den Unterrichtsraum, Rei.« Meine Tante schien verärgert über die zweite Erwähnung des Treffens, zu dem man sie nicht eingeladen hatte. Als ich ihr zum Aufzug folgen wollte, hielt Natsumi mich zurück.
    »Sie haben ein Loch in der Strumpfhose«, flüsterte sie. »Ich habe eine neue in meinem Schreibtisch, die könnte ich Ihnen geben.«
    Ich lächelte sie an. »Danke, aber es geht.«
    »Sakura wird das auffallen«, sagte sie. »Sie ist immer so kritisch! Ich möchte nicht, daß sie Sie verletzt.«
    Ein Blick auf Natsumis lange, schlanke Beine ließ mich vermuten, daß sie ziemlich teure Strumpfhosen trug. Wahrscheinlich würde ich gleich beim Anziehen eine Laufmasche hineinmachen, und sie zu ersetzen, würde mein Budget sprengen. Also schüttelte ich den Kopf und sagte: »Bitte machen Sie sich keine Gedanken deswegen. Aber herzlichen Dank für Ihr freundliches Angebot.«
    Dann wandte ich mich von ihr ab und dem Aufzug zu. Die Türen hatten sich mittlerweile geschlossen; offenbar war meine Tante ohne mich in den dritten Stock gefahren.
    Ich drückte auf den Rufknopf und wartete, den Blick auf die Stockwerksanzeige über der Tür gerichtet. Der Aufzug fuhr bis ganz hinauf in den achten Stock und kam dann langsam wieder herunter. Schließlich öffneten sich die Türen des leeren Lifts vor mir. Ich ging hinein und erneuerte meinen Lippenstift vor den verspiegelten Wänden. Natsumis perfektes Äußeres hatte mich ein wenig befangen gemacht.
    Ich fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und trat in den Vorraum, aus dem ich am Vortag die Kirschblütenzweige für den Kurs mitgenommen hatte. Tante Norie war nirgends zu sehen. Vielleicht befand sie sich schon in dem Unterrichtsraum. Die Tür war verschlossen, also klopfte ich.
    Das leise Geräusch, das herausdrang, klang ein bißchen wie das Miauen einer Katze. Ich zuckte zusammen. Seit einer schlechten Erfahrung vom Vorjahr assoziiere ich Katzen mit dem Tod. Richard hatte in der Zwischenzeit versucht, mich zum Kauf eines Kätzchens zu überreden, aber ohne Erfolg. Ich habe Angst vor Katzen. Ich legte das Paket mit den Tellern von Mrs. Morita ab und öffnete die Tür.
    Meine Tante stand am anderen Ende des Raumes bei der Tafel und dem Lehrerpult. Als ich das miauende Geräusch wieder hörte, wurde mir klar, daß es ihre Stimme war. Ich trat näher und sah, daß sie sich über einen langen weißen Felsbrocken beugte. Auf dem Boden lag eine Frau. Sie war wohl hingefallen, und Tante
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