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Bitter im Abgang

Bitter im Abgang

Titel: Bitter im Abgang
Autoren: Aldo Cazzullo
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auf den Mund, so sanft, dass sich jede Widerrede verbot. Unter den vielen Schuldgefühlen war ihr Sohn das größte.
    «Marisa, hör mir zu. Dabei denke ich nicht nur an ihn. Ich denke an unsere kleine Stadt. Der Krieg ist über sie hinweggefegt wie ein Unwetter. Es gibt keine Arbeit. Dafür mehr vergrabene Waffen als Geld. Was soll aus uns werden? Wenn wir nichts unternehmen, überlassen wir den Kommunisten kampflos das Feld.
    Nach und nach werden sie alles an sich reißen. Dann wird es kein Privateigentum mehr geben und auch keine guten Christen. Du weißt doch, wie die Leute hier sind, Glücksspieler, Selbstmörder, Gauner. Selbst wenn man sich alle erdenkliche Mühe gibt, findet man keinen, der wirklich ehrlich ist …»
    «Das ist nicht wahr.»
    «Unmöglich, einen zu finden, der kein Faulpelz ist oder zumindest ein Künstler. Man muss ihnen Grenzen setzen, Regeln vorgeben. Wir können uns nicht damit durchschlagen, dass wir den Turinern Wunderpillen verkaufen, die angeblich Wasser in Benzin verwandeln. Und wir dürfen auch nicht zulassen, dass die Menschen abwandern und das Land sich entvölkert. Wir müssen eigene Unternehmen aufbauen, nach unseren Möglichkeiten, mit unseren einheimischen Produkten.»
    «Und wofür würdest du das Geld ausgeben?»
    «Euer Betrieb läuft gut. Wein ist ein gutes Geschäft. Und wir haben den besten in Italien, vielleicht sogar weltweit. Dabei kostet er nur ein Drittel dessen, was man in Bordeaux oder im Burgund bezahlt. Man könnte die Produktion ausbauen, viel größere Mengen produzieren, zehn Mal so viel, hundert Mal so viel. Ihr könntet Weinberge hinzukaufen, in ganz Italien. Vielleicht auch in Frankreich.»
    «Und die Kirche, was hätte die Kirche davon?»
    «Da gibt es viele Möglichkeiten, sich erkenntlich zu zeigen. Für neue Betriebe braucht man neue Arbeitskräfte. Dafür nehmt ihr Leute aus dem Heer der Weinbauern, die euch die Trauben verkaufen; damit sichert man ihren Lebensunterhalt, ohne sie zu entwurzeln, man ermöglicht ihnen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen, und verhindert, dass sie Kommunisten werden. Wir verlangen keine Lira, aber wir sagen euch, wen ihr einstellen sollt. Mit dieser Methode können wir das gesamte Gebiet von hier bis nach Turin an die Kirche binden, an die christliche Nächstenliebe, an das Gute.»
    «Und Antonio? Hast du auch bedacht, dass das Ganze ihn überfordern könnte?»
    «Antonio ist robust, er wird sich gegen alle Widerstände durchsetzen.»
    Marisa drückte ihn an sich. Wenn er so prophetisch sprach, fand sie ihn einfach umwerfend. So hatte er sie erobert, mit dieser unvergleichlichen Mischung aus visionärer, fast asketisch anmutender Kraft und einem handfesten, fast furchterregenden Realismus. Pater Bergoglio gab ihr einen Schmatz, das war seine Art, sich zu verabschieden. Rasch zog sie sich an. Verstohlen verließ sie, kurz bevor es hell wurde, das Haus durch die Hintertür, darauf bedacht, nicht gesehen zu werden.

24

Winter 1944
    Sein Leben lang sollte Alberto den Blick nicht vergessen, mit dem Virginia ihn ansah, als er von einer Mission in Turin zurückkam. Zwei Wochen hatte er nichts von sich hören lassen. Besessen von dem Gedanken, Moresco habe ihn mit der romantischen Idee losgeschickt, die Genossen aus dem Gefängnis zu befreien, nur damit er genügend Zeit hätte, eine andere, entschieden weniger romantische Idee in die Tat umzusetzen.
    Und tatsächlich, als er auf den Hof zurückkam, sah er Virginia und Moresco zusammen. Aber zwischen ihnen lief nichts mehr. Von draußen, in Dunkelheit und Kälte versteckt, beobachtete Alberto sie durchs Fenster, ohne ein Wort ihres Gesprächs zu verstehen, ohne von ihren Lippen ablesen zu können, im schwachen Licht der Lampen. Doch als er ihren Blick auffing, wusste er, was geschehen war.
    Virginia hatte sich nicht für Moresco entschieden,sondern für ihn, Alberto. Für einen Mann, weniger reich, weniger hart, vielleicht auch weniger schön, jedoch fähig zu absoluter Ergebenheit, zu einer Liebe, die alles überdauern würde, die Umstände, die Jugend, diese aufregende, aber vergängliche Jagdsaison, wo man jede Nacht sein Leben aufs Spiel setzte. Virginia hatte sich für den Menschen entschieden, für den jeglicher Gedanke an die Zukunft untrennbar mit ihr verbunden war. Sie hatte begriffen, dass nichts auf der Welt stärker ist als eine Frau, die sich dem Mann hingibt, von dem sie bedingungslos geliebt wird.
    In dieser Nacht schliefen Virginia und Alberto zum ersten Mal
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