Bisswunden

flüstere ich, doch sie lässt sich nicht aufhalten.
    Ich schieße ihr mitten ins Gesicht, und ein feiner roter Nebel spritzt hinter ihr durch die Luft.
    Während Stacey Lorio endgültig fällt, ist alles, woran ich denken kann, die grausame Ironie, dass es ausgerechnet mein Großvater war, der mir beigebracht hat, mit einer Handfeuerwaffe zu schießen.
    Dann wird alles schwarz.

66
    D en größten Teil der Woche, nachdem ich angeschossen wurde, habe ich auf Beerdigungen verbracht. Zwei davon habe ich erwartet, eine nicht. Zwei wurden verschoben, bis man mich aus dem Tulane University Hospital entlassen hat, und dank Stacey Lorio saß ich bei allen Begräbnissen in einem Rollstuhl. Die Kugel aus Seans Waffe durchschlug meinen Magen und blieb in einem Rückenmuskel stecken. Ich verlor eine Menge Blut und meine Milz.
    Mein Baby aber verlor ich nicht.
    Sean wäre fast in seinem eigenen Blut ertrunken. Sein Kopf hatte seitwärts gelegen, als Lorio auf ihn schoss, und anstatt seine Stirn zu durchschlagen, war die Kugel entgegen Lorios Absicht wenige Zentimeter unterhalb von Seans Ohr durch die Wange gegangen. Sie hatte fünf Zähne getroffen, die Gaumenplatte zerschmettert und einen Teil seiner Nasennebenhöhlen in Brei verwandelt. Sean verdankt Angie Pitre sein Leben; sie war nicht geflohen, sondern wählte den Notruf und blieb bei uns, bis Notarzt und Polizei eintrafen.
    Stacey Lorio war sofort tot, nachdem meine zweite Kugel sie getroffen hatte. In mir ist eine tiefe Traurigkeit wegen des Kindheitstraumas, das sie zu der hasserfüllten Erwachsenen gemacht hat, die sie am Ende war, doch ich empfinde keine Schuldgefühle, weil ich sie getötet habe. Sie wollte Sean und mich kaltblütig ermorden. Sean gibt sich selbst die Schuld daran, dass er Stacey Lorios »bombensichere« Alibis für die Tatzeiten nicht geknackt hat, doch das hat auch kein anderer getan. Wie sich herausgestellt hat, ist ihr Exmann drogensüchtig; weil Stacey ihn mit Pillen aus der Klinik versorgte, in der sie gearbeitet hat, hätte er ihr wahrscheinlich noch für ein Dutzend weiterer Morde Alibis gegeben und vor Gericht unter Eid darauf geschworen. Die übrigen Alibis stammten von zwei Frauen, die später ebenfalls als Mitglieder von Maliks GruppeX identifiziert wurden. Im Nachhinein erscheint alles so offensichtlich.
    Special Agent Kaiser verbrachte sehr viel Zeit in meinem Krankenzimmer. Die Ärzte versuchten ihn abzuwimmeln, doch Kaiser kann ziemlich hartnäckig sein. Er wollte jede Einzelheit erfahren, die ich während des Falls erlebt hatte, und wie ich das Rätsel um die Person des Killers gelöst hätte. Er war besessen davon, ein für alle Mal herauszufinden, ob die sechs Morde in New Orleans in irgendeiner Verbindung zu den Ereignissen in Natchez und auf DeSalle Island standen. Angesichts der Beziehung zwischen Malik und meiner Tante Ann – und in gewisser Weise auch zwischen Malik und mir – schien es unvorstellbar, dass es keinen kausalen Zusammenhang geben sollte. Doch es gab keinen. Nicht wirklich jedenfalls.
    Dr. Hannah Goldman drückte es passend aus, als sie vorbeikam, um mich zu besuchen, und Kaiser neben meinem Bett antraf. Geduldig malte sie ein Diagramm auf der Rückseite einer Cafeteria-Speisekarte, in dem sie die Verbindungen aufzeigte. Die primäre Verbindung zwischen New Orleans und Natchez war sexueller Missbrauch. Nathan Malik bemerkte mich damals in Jackson, Mississippi, weil ich mit einem Mann schlief, der fünfundzwanzig Jahre älter war als ich. Diese Beziehung – ein Hinweis auf Missbrauch im Kindesalter – hatte meinen Rauswurf von der Medical School zur Folge, was mich wiederum zur Zahnmedizin und letztlich zur forensischen Odontologie führte. Maliks Kindheitstrauma führte ihn langsam, aber sicher dazu, die Opfer von sexuellem Missbrauch zu therapieren. Er wurde der natürliche Endpunkt der Suche meiner Tante Ann nach einem Therapeuten, der die grauenhaften Folgen des Missbrauchs in Anns eigener Kindheit zu kontrollieren vermochte. Angesichts Anns Geschichte – und Nathan Maliks sexuellen Vorlieben – war es fast unvermeidlich, dass sich zwischen beiden eine sexuelle Beziehung entwickelte. Maliks Kindheitstrauma machte ihn außerdem anfällig für die Kontertransferenz, die dazu führte, dass er seinePatientinnen in Gruppe X zur Selbstjustiz ermunterte. Die Morde, die von Stacey Lorio und Evangeline Pitre gemeinsam begangen wurden, und die Entscheidung jener Frauen, mithilfe vorgetäuschter Bisswunden die wahre