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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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Bürgermeisters, des Justizministers und des Gouverneurs von Mississippi.
    Jeder scheint sich damit zufrieden zu geben, dass der Tod meines Großvaters ein Unfall gewesen ist. Dass er auf dem Weg nach DeSalle Island mittags im hellen Sonnenlicht von der Fahrbahn über den Niedrigwasserdamm abgekommen ist, scheint allen zu entgehen. Einige Leute haben seinen »kürzlichen« Schlaganfall erwähnt – der ziemlich genau ein Jahr zurückliegt – und erinnern sich, dass sein Arzt ihm das Autofahren verboten hat. Tatsächlich, so sagen sie, war es wohl der plötzliche Tod seines Fahrers Billy Neal, der meinen Großvater veranlasste, sich selbst hinters Steuer zu setzen und alleinzur Insel zu fahren, um dringende geschäftliche Angelegenheiten zu regeln.
    Die Wahrheit ist viel einfacher.
    Mein Großvater hat seinem Leben ein Ende gesetzt.
    Er wusste, dass das dunkle, böse Geheimnis seines Lebens kurz davor stand, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Dass all sein Geld und seine Macht nicht reichen würden, um eines seiner Opfer – mich – daran zu hindern, seine Schandtaten vor aller Welt darzulegen. Und das konnte sein Stolz nicht verkraften. Er hielt seine Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, wahrscheinlich für eine mannhafte, vielleicht sogar noble Tat. Doch ich weiß, was er in Wirklichkeit war. Alles in allem war Dr. William Kirkland, Arzt und Chirurg und Stütze der Gemeinde, nichts weiter als ein erbärmlicher Feigling.
    Ich bin heute nur deswegen hier, weil ich sehen will, wie er verscharrt wird. Ich brauche diesen Abschluss. Wenn man sein ganzes Leben mit einem Dämonen verbracht hat und ihm irgendwie entkommen konnte, dann ist es wichtig zu sehen, wie er begraben wird. Hätte der gute alte Mr. McDonough mich gelassen – ich wäre in den Vorbereitungsraum seines Instituts gegangen und hätte einen Holzpflock durch das Herz meines Großvaters getrieben.
    Und doch ist er nicht als Monster zur Welt gekommen, sondern als unschuldiger kleiner Junge, der auf dem Weg zur Taufe durch einen Verkehrsunfall seine Eltern verlor. Es geschah erst später – wann, werde ich wohl niemals erfahren –, dass das Gift in ihn injiziert wurde, mit dem er auch mich infiziert hat. Vor vielen Jahrzehnten, in einer dunklen und stillen Nacht irgendwo auf dem Land, wurde ihm seine Unschuld gestohlen, und eine verborgene, heimliche Verwandlung nahm ihren Lauf, die das Leben zahlloser anderer Menschen veränderte, einschließlich meines eigenen.
    Ein Geheimnis, das wahrscheinlich ungelöst bleiben wird, ist die Antwort auf die Frage, warum Großvater plötzlich anfing, Vaters Skulpturen aufzukaufen. War er getrieben vonSchuldgefühlen? Oder war es der wahnwitzige Versuch, den kreativen Funken zu begreifen, den er mit seiner Tat erstickt hatte, zumal Kreativität das einzige Talent war, das mein Großvater niemals besessen hatte?
    Vielleicht liefert mir die Zeit – oder irgendein noch verschollenes Dokument – eines Tages die Antwort.
    Die Bestattungszeremonie ist gnädigerweise kurz, denn der Himmel zieht sich zu, und Regen droht. Die Trauergäste ziehen sich rasch zu ihren Fahrzeugen zurück, und die lange Schlange setzt sich in Bewegung, um den Friedhof zu verlassen.
    Als alle gefahren sind, bleibt eine einsame Gestalt neben dem Grab zurück.
    Pearlie Washington.
    Sie trägt ein schwarzes Kostüm und einen riesigen schwarzen Hut, doch ich kenne ihre hagere Gestalt genauso gut wie die meiner Mutter. Wahrscheinlich sogar besser. Ist sie zurückgeblieben, um allein mit dem Leichnam meines Großvaters zu sein? Oder Anns? Oder ist sie vielleicht geblieben, weil sie ahnt, was als Nächstes auf dem Familiengrab der DeSalles geschehen wird?
    Während Michael mich den Hügel hinunterschiebt, steht Pearlie reglos da und starrt auf Großvaters Grab. Als wir näher kommen, erscheint ein weißer Dodge Caravan mit kunstvollem Chromschmuck am Eingang des Friedhofs und kommt langsam über den asphaltierten Weg in unsere Richtung. Vor der niedrigen Einfassung des Familiengrabs hält er an. Zwei Männer in dunklen Anzügen steigen aus, gehen zur Rückseite des Caravans und laden einen Bronzesarg ab. Sie stellen ihn auf einen klappbaren Rollwagen und schieben ihn über den Rasen an den Rand der Grabstätte, wo eine grüne Plane ein längliches Loch im Boden bedeckt.
    Auf dem Grabstein steht:
    luke ferry, 1951–1981
    Als Michael mich durch das Tor der Umfriedung schiebt,kommt Pearlie uns entgegen und berührt meine Hand. »Tun diese Leute das, was
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