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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden
Autoren: Greg Iles
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ich denke?«
    »Ja.«
    Ich sehe Schmerz in ihren Augen. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich habe diesen Jungen ebenfalls geliebt.«
    »Ich wollte mit ihm alleine sein. Bitte entschuldige, Pearlie.«
    »Möchtest du, dass ich gehe?«
    »Nein.«
    Die alte Frau beobachtet mit uns zusammen, wie die Männer die Plane vom Boden nehmen. Als sie die Plane zusammenfalten, setzt leichter Regen ein.
    »Wo ist deine Mom?«, fragt Pearlie.
    »Sie hat gesagt, sie würde es nicht ertragen, ihren Ehemann ein zweites Mal zu beerdigen.«
    Pearlie stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wahrscheinlich hat sie Recht.«
    Michael berührt mich am Ellbogen und beugt sich zu mir herab. »Ich lasse euch jetzt ein paar Minuten allein«, flüstert er mir ins Ohr.
    Ich nehme seine Hand und drücke sie. »Danke. Es dauert nicht lange.«
    »Lass dir Zeit.«
    Er wendet sich ab und geht davon. Pearlie blickt ihm hinterher, während er das Familiengrab verlässt. »Er sieht aus, als wäre er ein guter Mann.«
    »Das ist er.«
    »Weiß er, dass du das Kind eines anderen in dir trägst?«
    Ich blicke hinauf in die neugierigen braunen Augen. »Ja.«
    »Und er will sich trotzdem weiter mit dir treffen?«
    »Ja.«
    Sie schüttelt den Kopf wie vor einem seltenen und wunderbaren Anblick. »Das ist ein Mann, an den du dich binden solltest, gleich auf der Stelle.«
    Ich spüre, wie mein Mund sich zu einem Lächeln verzieht. »Ich denke, da hast du Recht.«
    Pearlie nimmt meine Hand und drückt sie fest. »Herrgott, es wurde aber auch Zeit, dass du zur Ruhe kommst. Wir brauchen dringend ein paar Babys in diesem alten Kasten.«
    Ich atme tief durch und blicke hinunter auf Großvaters Grab. »Ich glaube, ich wollte erst abwarten, bis er gegangen ist.«
    Pearlie nickt. »Gott weiß, wie Recht du damit hattest.«
    Daddys Sarg liegt inzwischen neben dem offenen Grab, und der Regen plätschert auf die stumpfe Bronze des Deckels. Eigenartigerweise macht mir das Geräusch überhaupt nichts mehr aus.
    »Könnten Sie ihn noch einmal für mich öffnen, bitte?«, frage ich.
    Einer der Männer von Mr. McDonoughs Institut zieht einen Sechskantschlüssel aus der Tasche und schraubt die Verriegelung auf.
    »Was?«, ächzt Pearlie voller Entsetzen. »Was machst du nur, Mädchen? Das bringt Unglück, so etwas zu tun!«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
    Als der Mann vom Beerdigungsinstitut den Sargdeckel hebt, greife ich in die Gepäcktasche unter meinem Rollstuhl. Ich spüre weiches Fell in meiner Hand. Indem ich all meine Kraft zusammennehme, stehe ich auf und gehe langsam zum Sarg. Mein Vater sieht genauso aus wie vor zwei Tagen, wie ein junger Mann, der nach einem Sonntagsessen auf der Couch liegt und ein Nickerchen macht. Ich beiße die Zähne zusammen gegen die Schmerzen, beuge ich mich hinab und lege ihm Lena die Leopardin behutsam in die Armbeuge. Dann richte ich mich wieder auf.
    »Damit du nicht einsam bist«, sage ich leise.
    Bevor ich mich abwende, nehme ich noch ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und lasse es neben dem Knie meines Vaters in den Sarg gleiten. Es ist eine der Zeichnungen ausseinem Skizzenbuch, das er in dem grünen Seesack unter den Dielen in der Scheune versteckt hatte. Eine Kohlezeichnung von Louise Butler, die ihn mit grenzenloser Liebe in den Augen anlächelt. Vielleicht sollte ich mich deswegen schuldig fühlen, doch das tue ich nicht. Louise Butler hat Luke Ferry in seinen letzten Jahren wahrscheinlich mehr Schmerzen abgenommen als jede andere von uns. Sie hat ihn so akzeptiert, wie er war … als einen schlimm verwundeten Menschen.
    »Leb wohl, Daddy«, murmele ich. »Und danke, dass du es versucht hast.«
    Ich wende mich von seinem Sarg ab und kehre zu meinem Rollstuhl zurück, wobei ich Michael winke. Er kommt rasch herbei.
    »Ich möchte den Fluss sehen«, sage ich zu ihm. »Könntest du mich zum Jewish Hill hinaufschieben?«
    Jewish Hill ragt hundert Meter über dem Mississippi auf und bietet den prachtvollsten Ausblick auf den mächtigen Fluss, den ich jemals gesehen habe.
    Michael kann seine Bestürzung nicht verbergen. »Es regnet, Cat.«
    »Ich weiß. Ich mag es. Kommst du mit mir, Pearlie?«
    »In Ordnung, Baby.«
    »Schaffen Sie es denn?«, fragt Michael besorgt.
    Pearlie schnaubt indigniert. »Ich mag vielleicht über siebzig Jahre alt sein, aber ich kann immer noch zu Fuß von Red Lick nach Rodney marschieren und habe genügend Kraft für einen Arbeitstag übrig.«
    Michael lacht; offensichtlich kennt er die Namen
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