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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an
Autoren: Anne Telscombe
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    Folgende Aktennotiz flatterte eines schönen Tages auf den Schreibtisch des Abteilungschefs Nord-Osten des britischen Auswärtigen Amtes:
    Heute nachmittag war ein Mr. Herbert Napier in meinem Büro. Er ist Rechtsanwalt. Er äußerte den Wunsch, in einer privaten Angelegenheit den Rat des Auswärtigen Amtes einzuholen. Er ist offensichtlich wegen seiner Tante, Miss Lavinia Baker, einer etwas exzentrischen Dame von siebzig Jahren, beunruhigt. Sie sei bereits in verschiedenen Fällen bei Auslandsreisen in die unwahrscheinlichsten Abenteuer verwickelt gewesen. Aus diesen mißlichen Situationen mußte sie jedesmal von ihrer Familie befreit werden.
    Der ehrenwerte Sir John Plummer kratzte sich ob dieses merkwürdigen Elaborats etwas ratlos am Kopf und ließ dann Mr. Buckingham kommen, dessen nicht gerade dichterischer Feder diese bemerkenswerte Notiz entstammte.
    Jetzt hat die Dame ein Visum für die Sowjetunion beantragt, und es besteht dia Möglichkeit, daß das sowjetische Konsulat den Antrag bewilligt. Obgleich sie anscheinend keine radikalen politischen Anschauungen vertritt, ist ihr Neffe davon überzeugt, daß sie während ihres Aufenthalts in Moskau in Schwierigkeiten, möglicherweise finanzieller Natur, geraten wird.
    Im Hinblick darauf ersucht er das Auswärtige Amt einzuschreiten und zu verhindern, daß Miss Baker ein Visum erhält. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß das nicht möglich sei.
    Mr. Napier jedoch lehnt jede weitere Verantwortung für seine Tante nachdrücklich ab. Ich habe ihn mit den Tatsachen über das Touristenwesen in der Sowjetunion bekanntgemacht.
    Was Mr. Buckingham ihm berichtete, war selbst für das an alle möglichen und unmöglichen Seltsamkeiten gewöhnte Auswärtige Amt seiner britischen Majestät sehr neu. Da war also dieser Mr. Napier erschienen und hatte sich nach vielen verlegenen Einleitungsfloskeln ein Herz gefaßt und gesagt: «Ich muß Ihnen wohl die ganze Sache von Anfang an erzählen. Meine Tante - sie ist die Schwester meiner Mutter - reist leidenschaftlich gern. Sie sammelt Länder wie andere Leute Briefmarken. Nicht um irgend etwas damit anzufangen. Völlig ohne Methode. Sie hat kein besonderes Interesse an politischen Systemen, sie macht auch keinerlei logischen Versuch, einzelne Länder miteinander zu vergleichen. Sie schreibt keine Bücher über ihre Reisen oder dergleichen, nein, sie liebt einfach das Reisen um des Reisens willen - sieht gern neue Gegenden, lernt gern neue Menschen kennen. Sie hat auch nicht etwa viel Geld. Im Gegenteil, bei den Steuern heutzutage und so weiter lebt sie in , wenn ich so sagen darf. Aber auch das hindert sie nicht, ständig unterwegs zu sein. Sobald sie von ihrem kleinen Einkommen genug für eine Fahrkarte zusammengespart hat, geht’s schon los.
    Sie reist meist dritter Klasse und nimmt in den gottverlassensten Gegenden alle möglichen Beschäftigungen an, mit denen sie manchmal die Rückfahrt nach England finanziert. Aber wenn sie selbst das Geld nicht aufbringen kann und genug hat von dem Land, in dem sie sich zufällig gerade aufhält, dann geht sie zum Britischen Konsulat und läßt sich als notleidende britische Staatsangehörige nach Hause schicken.»
    «Ist das schon oft passiert?» hatte Mr. Buckingham daraufhin gefragt.
    «Aber ja», hatte Mr. Napier gestöhnt. «Ein paarmal habe ich es miterlebt, und ich glaube, es war noch schlimmer, als sie jung war. Damals kümmerte sich mein Vater darum. Natürlich mußte die Familie das Geld jedesmal zurückerstatten, wenn Tante Lavinia wieder in England war. Gelegentlich mußte sogar einer von uns hinreisen und sie persönlich zurückholen.»
    Des weiteren hatte Mr. Napier sodann einen erschöpfenden Bericht über Miss Lavinia Bakers Laufbahn als unermüdliche Globetrotterin gegeben, über Safaris in Afrika, Besuche bei Wüstenscheichs in Saudi-Arabien und Schmugglerreisen in Indien. Sehr diplomatisch hatte Mr. Buckingham versucht, diese unwahrscheinlichen, in völlig humorlosem Ton vorgetragenen Geschichten zu unterbrechen, und zur Sache kommend gefragt: «Mir ist immer noch nicht ganz klar, wie wir Ihnen behilflich sein können. Unsere Abteilung ist vor allem für Rußland zuständig.»
    Worauf Mr. Napier gemeint habe, genau das sei der springende Punkt. Denn seine Tante sei noch nie in Rußland gewesen. In den dreißiger Jahren, als es viele Gesellschaftsreisen dorthin gab, sei ihr das wohl nicht reizvoll genug erschienen. Aber jetzt, wo es
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