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Bissige Gäste im Anflug

Bissige Gäste im Anflug

Titel: Bissige Gäste im Anflug
Autoren: Franziska Gehm
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die sterblichen Überreste von unzähligen, in der Schlacht eines längst vergangenen Krieges gefallenen Menschen?
    Silvania bekam bei dem Gedanken rote Kringel um die Augen.
    Daka hob vor Gruseln ein paar Zentimeter vom Boden ab.
    Helene spürte, wie sich die Haare an ihren Armen und Beinen aufstellten.
    Ludos Mund wurde so trocken, dass ihm die Zunge am Gaumen klebte. Sein Blick wanderte zum Gipfel des Knochenhügels. Einen Moment kam es ihm so vor, als würden sich die kahlen Äste des Baums bewegen. Er meinte sogar, sie in der Ferne knarzen zu hören. Doch es war gerade vollkommen windstill. Wie konnte das sein?
    Ludo schüttelte innerlich den Kopf. Es stimmte, was Daka gesagt hatte: Er war ein Porci-Klaperski. Da verfolgte ihn mal eine Nacht ein Albtraum und schon schlotterten ihm bei den kleinsten Geräuschen und Bewegungen die Pobacken. Wahrscheinlich, nein, ganz sicher, bildete er sich alles nur ein. Der tote Baum bewegte sich überhaupt nicht. Und es gab auch keinen Blitz. Keine Tierkrallen. Keinen Schrei. Keinen Geist. Aus und fertig. Ludos Papa hatte recht: Ludo hatte keine besondere Gabe, sondern einfach nur zu viel Fantasie.
    Silvania, deren rote Kringel mittlerweile wieder etwas verblasst waren, sagte leise: »Na dann, gehen wir. Schließlich wollen wir Mitternacht oben sein.«
    Die anderen nickten. Im Gänsemarsch marschierten sie langsam den Hügel hinauf: erst Silvania, dann Helene, dann Daka und als Letzter Ludo.
    Ludo versuchte sich ganz auf seine Schritte zu konzentrieren. Zuerst raschelte das Gras leise unter seinen Füßen, dann knirschte das Geröll. Manchmal lösten sich ein paar Steine und rollten klackend den Hang hinab.
    Obwohl Ludo der Letzte in der Reihe der Nachtwanderer war, hatte er seltsamerweise das Gefühl, jemand würde hinter ihm gehen. Doch immer, wenn er sich umdrehte, sah er nichts außer dem einsamen Hang, dessen Fuß bereits von der schwarzen Nacht verschluckt wurde.
    Ludo ging weiter, den Blick nach vorne gerichtet. Das Gefühl, verfolgt zu werden, wurde immer stärker. Auf einmal spürte er eine frostige Hand hinter sich. Sie zog an seinen Fersen, fuhr ihm in die Hosenbeine, kroch ihm über den Rücken. Ludo ging schneller, doch er konnte den kalten Häscher nicht abschütteln. Ludo wusste genau, wer er war. Der Geist war ihm gefolgt. Er war nahezu lautlos, roch nach Eisblume und war unnachgiebig und eigensinnig. Und unberechenbar.
    Der Geist heftete sich an Ludo, zerrte an ihm und umschlang ihn gleichzeitig, als wollte er sich an Ludo festklammern. Was wollte er von ihm? War es Zufall, dass er Ludo zum Knochenhügel gefolgt war? Sollte Ludo die anderen um Hilfe bitten? Doch Ludo wusste, dass der Geist verschwinden würde, sobald sich eine seiner Freundinnen zu ihm umdrehen würde. Und er würde wieder auftauchen, sobald die anderen sich wieder abgewandt hatten. Wie immer musste er selbst mit den Geistern fertigwerden. Obwohl er sie gar nicht gerufen hatte. Er musste herausfinden, was der Geist wollte. Sonst würde er niemals Ruhe geben.
    Als sich der Geist um Ludos Hals schlang und ihn beinahe würgte, wurde Ludo etwas klar. Er spürte es in diesem Moment ganz deutlich: Der Geist wollte ihm nicht drohen oder ihn angreifen. Er wollte ihn auch nicht verschrecken. Der Geist hatte Angst. Solche riesengroße, enorme, gewaltige, unheimliche Angst, dass sich sofort ein Teil davon auf Ludo übertrug.
    Die Angst legte sich um Ludos Körper wie eine Eisschicht. Stocksteif schritt Ludo den Hügel hinauf. Er brachte keinen Ton heraus. Er wollte nur noch eins: den Gipfel des Knochenhügels erreichen, den Geist samt der Angst abschütteln, mit den anderen picknicken und schnurstracks wieder zurück nach Hause gehen. Wenn er es sich genau überlegte, könnten sie den Teil mit dem Gipfel und dem Picknick auch weglassen und gleich umkehren.
    Ludo sah zum Vollmond. Er wirkte ruhig und gelassen. Kein Wunder. Er war ja auch 384 401 Kilometer von der Erde und dem Knochenhügel entfernt. Plötzlich wurde Ludo weiß vor Augen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nicht das Mondlicht war. Es war ein Bild, das sich wie ein Blitz vor seine Augen schob: In dem Bild blickte Ludo auf die Erde hinab. Die Flachdächer der Häuser unter ihm sahen aus wie Spielkarten. Die Bäume dazwischen wie dunkelgrüne, kleine Staubflusen. Er sah seine Arme und Beine in der Luft baumeln. Unter ihm war nichts als Luft. Ludo flog.
    Das Bild war genauso schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war.
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