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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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Schicht in der Bibliothek fast zu Ende. Sie wirft einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Na ja, nicht ganz; noch fünfundvierzig Minuten.
    Sie weiß, dass sie dankbar sein sollte für den Job. Schließlich musste ihr Bruder sich ganz schön dafür einsetzen, dass sie hier arbeiten kann. An drei Nachmittagen in der Woche hilft sie in der Universitätsbibliothek aus. Das bringt ein bisschen Kohle. Nicht genug, aber immer noch mehr, als im Häagen-Dazs-Shop, wo sie früher gearbeitet hat.
    Natürlich ist das Geld damals komplett in ihre eigene Tasche gewandert. Jetzt liegen die Dinge ein bisschen anders. Jetzt arbeitet sie, um etwas mitzuhelfen, damit ihr Bruder nicht für alles allein aufkommen muss. Jetzt muss sie sich über Dinge wie die Telefonrechnung Gedanken machen. Aber das ist eigentlich gar nicht so schlimm, zumindest nicht im Vergleich zu ihrem restlichen Leben.
    »Aber wir können Ihnen das Buch bestimmt per Fernleihe besorgen«, fährt Miss Hamilton fort. »Willow? Können Sie sich bitte darum kümmern?«
    Miss Hamilton beobachtet sie mit Argusaugen, bereit, sich sofort auf sie zu stürzen, sobald sie einen Fehler macht. Sie ist eigentlich kein schlechter Mensch. Zu allen anderen ist sie ganz nett, es passt ihr nur nicht, dass Willow in ihre geheiligte Bibliothek eingedrungen ist. Die übrigen Mitarbeiter sind entweder Studenten oder Festangestellte. Willow ist die einzige Schülerin.
    Es ist eigentlich so wie im Moment überall. Sie gehört einfach nicht dazu.
    Willow nimmt das Formular, das der Typ mit seiner zittrigen, spinnenartigen Handschrift ausgefüllt hat. Er braucht irgendein seltenes Buch über Philosophen aus dem zwölften Jahrhundert. Sie blickt kurz zu ihm auf. Ein älterer Mann. Sehr alt. Schätzungsweise um die siebzig. Es ist immer wie der interessant, was für unterschiedliche Menschen in die Bibliothek kommen.
    »In ein paar Tagen müsste es hier sein«, informiert sie ihn, während sie die Signatur in den Computer eingibt. »Ihre Telefonnummer haben Sie doch dazugeschrieben, oder?« Sie schaut noch einmal auf das Formular. »Alles klar. Wir melden uns bei Ihnen, sobald es da ist.«
    »Wunderbar«, sagt er mit aufrichtiger Freude. Willow bemerkt, wie freundlich sein Lächeln ist. Sie tippt darauf, dass er ein emeritierter Professor ist, der immer noch gerne liest. Seine Augen leuchten förmlich bei der Aussicht, das Buch bald in Händen zu halten. In ungefähr zwanzig Jahren wäre ihr Vater bestimmt genau so gewesen. Der bloße Gedanke an ein Werk über einen kaum bekannten Volksstamm in Neuguinea hätte ausgereicht und er wäre völlig aus dem Häuschen geraten.
    Hätte. Wäre.
    Die Verzweiflung trifft sie völlig unvorbereitet, sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Mit weiß hervortretenden Knöcheln hält sie sich an der Theke fest. Sie darf hier unter gar keinen Umständen zusammenbrechen. Fällt ihr nicht irgendetwas ein, irgendeine Ausrede, weshalb sie dringend gehen muss, um das tun zu können, was sie tun muss, ohne dass Miss Hamilton stinksauer wird?
    Unter einem der Stühle sieht Willow ihre Tasche stehen, in der sich alles Notwendige befindet. Allein ihr Anblick genügt, um sie ein bisschen zu beruhigen. Sie lässt den Tisch los und reibt sich die Arme, genießt es, wie die Baumwolle über ihre frischen Wunden scheuert. Das muss fürs Erste genügen.
    »Willow!« Miss Hamiltons Stimme hat einen scharfen Unterton. Sie hat sie eindeutig nicht zum ersten Mal gerufen.
    »Tut mir leid!« Willow zuckt erschrocken zusammen. Sie zwingt sich, den Blick von der Tasche loszureißen und ihn auf Miss Hamiltons finsteres Gesicht zu richten.
    »Ich brauche Sie oben im Magazin.«
    »Okay.« Sie nickt, obwohl sie ungern ins Magazin geht. Es ist schmuddelig, die reinste Staubfalle. Und unheimlich. Willow hat Gerüchte über Gespenster gehört. Nicht, dass sie an Gespenster glaubt, aber trotzdem …
    »Der junge Mann hier hat seinen Ausweis vergessen, wenn Sie ihn also bitte nach oben begleiten könnten.«
    Willow schaut den Typen an, der hinter Miss Hamilton an der Buchausgabe lehnt. Diesmal ist es kein Siebzigjähriger. Wahrscheinlich ist er nur ein paar Jahre älter als sie, wenn überhaupt. Er schüttelt sich mit einer Kopfbewegung die Haare aus dem Gesicht und lächelt sie an.
    Willow weiß, dass sie sein Lächeln erwidern sollte, aber sie schafft es einfach nicht.
    »Sofort.« Sie lässt den Blick wieder zu Miss Hamilton zurückwandern. »Ich muss hier nur noch kurz was fertig
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