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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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Pinsel die sich ständig verändernde Szenerie einzufangen.
    Sie wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Schreibtisch, auf den Aquarellkasten und die Pinsel, die Cathy für sie gekauft hat. Wie ihr Fahrrad, wie fast alle ihre Sachen, hat sie ihre Malutensilien zu Hause gelassen. Es ist wahnsinnig süß von Cathy, dass sie ihr neue besorgt hat, und das Mindeste, das sie tun könnte, um diese Geste zu erwidern, wäre, wenigstens einen Versuch zu machen, mit dem Malen wieder anzufangen. Aber irgendwie bringt sie einfach nicht die Energie dafür auf.
    Dabei ist das längst nicht alles, was Cathy getan hat, um ihr eine Freude zu machen. Sie hat sich viel Mühe gegeben, dieses Zimmer für sie einzurichten, und mit seinen Pastelltönen und den hübschen Möbeln ist es wirklich ganz besonders schön. Viel schöner als ihr altes Zimmer. Zu Hause war sie nach Davids Auszug in dessen Zimmer gezogen, weil es das größte war. Die Wände waren schwarz gestrichen gewesen, ein Überbleibsel aus seiner Heavy-Metal-Zeit. Willow und ihre Mutter hatten sich ständig versichert, dass sie es bald neu streichen würden.
    Wer hätte gedacht, dass man sich in vier schwarzen Wänden so sicher fühlen kann?
    Willow setzt sich abrupt auf, geht zum Fenster und streckt den Kopf nach draußen. Es ist mild und die sanfte Brise streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. Der Übergang vom Abend zur Nacht ist ihre liebste Tageszeit.
    Zu Hause hätte sie wahrscheinlich mit einer ihrer Freundinnen telefoniert. Früher sahen ihre Tage in der Regel so aus: Sie traf sich nach der Schule mit ihren Freundinnen, ging anschließend heim und erledigte ihre Hausaufgaben. Vor dem Abendessen tauschte sie telefonisch die letzten Neuigkeiten aus oder fuhr, wenn sie nicht so viel für die Schule zu tun hatte, noch ein bisschen mit dem Rad durch die Gegend.
    Jetzt sieht ihr Tagesablauf vollkommen anders aus. Sie schlafwandelt durch die Schule, hat so gut wie keine Freunde, geht in die Bibliothek, scheitert bei dem Versuch, ihre Hausaufgaben zu machen, und isst, was immer Cathy nach Hause liefern lässt – alles von der Rasierklinge begleitet.
    So endgültig, wie sie ihr altes Leben hinter sich gelassen hat, so hat sie auch ihre Freunde hinter sich gelassen. Sie gehören einer anderen Welt an, Willow nimmt ihre Anrufe nicht entgegen und löscht ihre Mails. Mittlerweile haben sie es aufgegeben zu versuchen, sie zu erreichen. Die Einzige, die sich immer noch bemüht, ist Markie, ihre beste Freundin. Aber Willow weiß, dass nur noch ein paar weitere unbeantwortete Nachrichten nötig sind, bis auch sie aufgeben wird.
    Seufzend schließt sie das Fenster. Wenn sie sonst schon nichts auf die Reihe bekommt, sollte sie sich wenigstens bei ihren Hausaufgaben anstrengen.
    Willow greift nach dem Buch, in dem sie bis morgen noch fünfzig Seiten gelesen haben muss. Bulfinchs Mythologie . Danach muss sie noch einen Essay darüber schreiben. Aber das dürfte eigentlich kein Problem sein. Das Buch hat sie schon tausendmal gelesen. Als sie mit dem Daumen durch die Seiten des billigen Taschenbuchs blättert, erinnert sie sich an die Erstausgabe, die früher auf dem Schreibtisch ihres Vaters lag. Auf das Vorsatzblatt hatte er mit seiner dunkelblauen Lieblingstinte seinen Namen geschrieben.
    Es wird natürlich immer noch dort liegen. Das Haus befindet sich in genau dem Zustand, in dem es war, als sie ausgezogen ist. Es ist noch nicht einmal zum Verkauf angeboten.
    Anfangs war Willow davon ausgegangen, dass sie dort wohnen bleiben würde, dass David, Cathy und Isabelle zu ihr ziehen würden. Was in gewisser Weise am Sinnvollsten gewesen wäre. Die Wohnung hier ist zwar gemütlich und hat genau die richtige Größe für zwei Erwachsene und ein Baby, aber seit sie eingezogen ist, ist es etwas eng geworden. Doch David war von Anfang an dagegen, in das Haus zurückzuziehen. Angeblich weil der Weg zur Arbeit zu weit gewesen wäre. Willows Eltern sind zwanzig Jahre lang mit der Bahn zur Arbeit gefahren – allerdings nur zweimal die Woche. David hat zwar einen ganz ähnlichen Stundenplan, aber Cathy wäre gezwungen gewesen, die Fahrt jeden Tag auf sich zu nehmen.
    Auch wenn es bisweilen etwas eng ist, muss Willow ihrem Bruder recht geben. Das Haus ist zwar geräumiger, aber es wäre nicht einfach, dort zu leben, und das hat nichts mit dem längeren Arbeitsweg zu tun. Es ist mit zu vielen Erinnerungen und Andenken gefüllt. Mit zu vielen Gespenstern.
    Seit dem Unfall ist sie nur zweimal dort
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