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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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gewesen. Das erste Mal, als David die Bücher ihrer Eltern zusammenpacken und mitnehmen wollte. Der Plan war gründlich nach hinten losgegangen, und sie hatten die ganze Aktion mittendrin abgebrochen. David hatte der Besuch so schrecklich zugesetzt, dass er sich weigerte, das Haus noch einmal zu betreten. Als sie das nächste Mal hinfuhren, warteten er und Cathy im Auto, während Willow, die sich wie ein Flüchtling fühlte, wie eine Heimatvertriebene, durchs Haus gerannt war und wahllos Klamotten in ihren Rucksack gestopft hatte. Jetzt wünscht sie sich, sie hätte sich die Zeit genommen, in Ruhe zu packen. Sie hat letzten Endes viel zu wenig mitgenommen und muss sich ständig irgendwelche Sachen von Cathy ausleihen. Hätte sie doch nur ein paar der Bücher eingesteckt, die ihr etwas bedeuteten, anstelle der drei Jeans, den paar T-Shirts und dem Rock. Wie gern würde sie jetzt die Bulfinch -Ausgabe ihres Vaters lesen statt dieses billige Taschenbuch, das sie in einer der Filialen einer riesigen Buchhandelskette in der Stadt gekauft hat.
    Willow weiß nicht, warum es ihr die Kehle zuschnürt. Sie versteht nicht, woher plötzlich dieses Brennen in ihren Augen kommt.
    Es ist doch nur ein Buch!
    Sie wirft es quer durchs Zimmer, wo es an der Wand abprallt, bevor es mit zerfledderten Seiten auf dem Boden landet.
    »Baju bajuschki baju ne loschisja na kraju …«
    Willow erstarrt. Sie wird kreidebleich und krallt die Hände in die Tagesdecke, als von unten die Stimme ihrer Mutter heraufweht. Sie braucht einen Moment, bis ihr klar wird, dass es Cathy ist, die Isabelle vorsingt. David muss ihr das Lied beigebracht haben, ein altes russisches Schlaflied, das ihre Mutter ihnen früher vorgesungen hat.
    Sie steht vom Bett auf und geht ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sekundenlang starrt sie in den Spiegel, betrachtet sich, als wäre sie eine Fremde.
    Wer ist das?
    Für alle anderen sieht sie vermutlich noch genauso aus wie immer, das heißt, bis auf die Haare. Ihr fehlt die Energie und Lust, sich so viel Mühe mit ihnen zu geben wie früher, also trägt sie sie einfach zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zur Mitte des Rückens reicht.
    Aber sie erkennt sich nicht wieder. Sie streckt eine Hand aus, um ihrem Spiegelbild die Augen zu verdecken.
    Willow hat nie gewusst, dass sie glücklich war. Sie hat sich schlicht nie Gedanken darüber gemacht, dass sie in ihrem Leben alles hatte, was sie jemals brauchen oder wollen würde.
    Heute kann sie nur noch über eines lachen: für wie selbstverständlich sie alles gehalten hat. Früher hat schon eine kleine Verletzung gereicht – eine schlechte Note oder eine Abfuhr von einem Typen –, um sie völlig aus der Bahn zu werfen. Sie schüttelt den Kopf über ihre eigene Dummheit, darüber, dass sie sich über so unwichtige Dinge geärgert hat, zum Beispiel darüber, dass ihr Lieblingskleid in der Reinigung verloren gegangen war.
    Dumm!
    Sie verspürt den plötzlichen Drang, ihren Kopf gegen den Spiegel zu schlagen. Diesen dämlichen Ausdruck aus ihrem Gesicht zu schlagen. Aber sie weiß, dass sie es nicht tun kann. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht, solange Cathy unten ist und David gerade nach Hause gekommen ist.
    Stattdessen betrachtet sie sich ruhig, verzieht dann den Mund und spuckt ihr Spiegelbild mit so viel Verachtung an, wie sie aufbringen kann.
    Sie weiß, dass das total melodramatisch ist. Na und? Die Spucke läuft am Glas hinunter und wieder blicken ihr diese toten Augen entgegen.
    Wer bist du?
    Das ist nicht die Willow, in der sie die letzten siebzehn Jahre gelebt hat. Das ist jemand anderes.
    Eine Mörderin.
    Eine Ritzerin.
    Willow wendet sich vom Spiegel ab.
    Sie starrt einen Moment lang auf ihre Arme. Jemand, der genau hinschaut, könnte die entzündeten roten Male unter dem dünnen Stoff der Baumwollbluse erkennen. Aber es schaut nie jemand genau hin.
    Sie krempelt die Ärmel hoch und untersucht die jüngsten Schnittwunden, dann öffnet sie den Medizinschrank und holt eine Wundsalbe heraus. Sie achtet sorgfältig darauf, dass ihre Wunden sich nicht entzünden. Das würde ihr noch fehlen, damit zum Arzt gehen zu müssen. Es reicht schon, dass Cathy sie neuerdings immer so seltsam ansieht. Andauernd fragt sie, warum Willow sich langärmlige T-Shirts von ihr ausleihen will, wo sie doch so einen schönen milden Altweibersommer haben. Sie weiß nicht, dass Willow, die sonst immer so viel Wert auf ihr Outfit gelegt hat, ihre Kleidung jetzt nur noch nach einem
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