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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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weißt schon, das über die mythologischen Helden …«
    »Das sollte dir ja wohl nicht besonders schwerfallen«, sagt David. »Hast du dich schon für ein Thema entschieden? Wann musst du’s abgeben?«
    »Äh … nein, noch nicht …« Willow weicht seinem Blick aus. Na schön, sie hat ein Thema, allerdings eines, das sie sich nicht selbst ausgesucht hat. Aber wie soll sie ihrem Bruder sagen, dass ihr Lehrer sie gebeten hat, etwas über das Thema Verlust und Wiedergutmachung unter Bezugnahme auf den Mythos Der Raub der Persephone zu schreiben? Das schafft sie nicht. Sie schafft es nicht, ihm in die Augen zu sehen und mit ihm über eine andere mutterlose Tochter zu sprechen. »Ich muss erst in drei Wochen abgeben, ich hab also noch genügend Zeit, mich zu entscheiden …«
    »Und in der Bibliothek? Wie war es heute? Besser? Ist Miss Hamilton mittlerweile ein bisschen netter zu dir? Soll ich mal mit ihr reden?«
    »Nein! Ich meine, danke, das ist lieb von dir, aber das ist nicht nötig. Sie ist in Ordnung, wirklich …«
    Willow kommt eine Idee. David möchte also wissen, wie es in der Bibliothek gelaufen ist? Vielleicht sollte sie ihm von diesem Typen erzählen, den sie kennengelernt hat. Von Guy. Das ist vielleicht etwas, über das sie unverkrampft reden können …
    Sie denkt daran, wie sie David letztes Jahr nach einer Vorlesung abgeholt hat. Ein Kommilitone von ihm, dem nicht klar gewesen war, dass sie noch auf die Highschool geht, hatte sie nach einem Date gefragt. Ihr Vater war alles andere als angetan gewesen, aber David hatte sich köstlich darüber amüsiert.
    »Ich … ich hab in der Bibliothek jemanden kennengelernt, der letztes Semester in einem von deinen Seminaren war«, sagt sie zaghaft. So, der Köder ist ausgeworfen, und sie ist gespannt, ob er anbeißen wird. Sie möchte so gern, dass er irgendwie, auf welche Art auch immer, aus sich herausgeht.
    »Wirklich?« Cathy wirft Willow einen neugierigen Blick zu, während sie weiterhin vergeblich versucht, Isabelle dazu zu bewegen, etwas zu essen. »Wie heißt …«
    »Ein er oder eine sie?«, fällt David ihr ins Wort. Er blickt sie über den Rand seines Glases an. Seine Stimme klingt angespannt.
    Oh Mann.
    »Es ist ein er und er heißt Guy«, sagt sie.
    Und er ist nett.
    »Guy?«, fragt David und denkt einen Moment lang nach. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder an ihn – der geht noch auf die Highschool, oder? Dann ist es wohl in Ordnung …«
    Du lieber Himmel!
    »Er nimmt an diesem Uni-Programm eurer Schule teil«, fährt David fort. »Er ist ziemlich gut und arbeitet härter als die meisten der richtigen Studenten. Von solchen wie ihm hätte ich gern mehr, das kannst du mir glauben. Und, was hat er so erzählt?«
    Das klingt schon eher nach dem Bruder, den sie mal hatte. War vielleicht gar keine so schlechte Idee, ihm von Guy zu erzählen, doch, noch während sie das denkt, wird ihr klar, dass sie selbst nicht mehr in der Lage ist, sich entspannt mit ihm zu unterhalten. Wie kann sie diese harmlose Frage überhaupt beantworten?
    Er hat mich gefragt, warum ich bei dir wohne, und ich hab ihm gesagt, dass ich Mom und Dad umgebracht habe.
    Natürlich haben sie auch über andere Dinge gesprochen, aber diese Themen sind ebenfalls tabu. Letztes Jahr noch hätte sie David problemlos erzählen können, dass Guy von dem Antiquariat in der Stadt geschwärmt hat, aber jetzt geht das nicht mehr. Es geht nicht, weil jede Erwähnung dieses Geschäfts, das David liebt, Erinnerungen an ihren Vater hervorrufen würde. Mit ihm sind sie das erste Mal dort gewesen.
    »Ähm, er hat gemeint, wir würden uns ähnlich sehen …« Willow sieht ihren Bruder an und fühlt Verzweiflung in sich aufsteigen. Er sieht so müde aus, so erschöpft … und seine Augen sind auch leer.
    Sie wünscht sich nichts mehr, als diese Leere zu füllen.
    Dann fällt ihr doch noch etwas anderes ein, das Guy gesagt hat. Etwas, das ihrem Bruder nicht wehtun wird, wenn er es hört, und sie greift danach wie nach einer Rettungsleine.
    »Ach ja, fast hätte ich’s vergessen.« Sie versucht, begeistert zu klingen. »Er findet, dass du ein unglaublich toller Lehrer bist, wirklich, er hat sich kaum noch eingekriegt.« Es ist nicht viel, es bringt ihre Eltern nicht wieder zurück, es erleichtert sein Leben in keiner nennenswerten Weise, aber es ist das Beste, das sie zu bieten hat.
    »Tatsächlich?«, sagt David langsam. Er überschlägt sich zwar nicht vor Freude, aber er wirkt auch nicht
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