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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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gleichgültig, und seine Augen blicken nicht mehr ganz so tot.
    »Ja, echt«, sagt Willow mit Nachdruck. Sie überlegt, was sie sonst noch hinzufügen könnte. Wie sie das Kompliment noch mehr ausschmücken, noch gewichtiger machen könnte. »Außerdem hat er erzählt, dass er ernsthaft darüber nachdenkt, später Anthropologie zu studieren. Er meinte, dass dein Unterricht ihn davon überzeugt hat, dass es das ist, was er will.«
    So hat er es natürlich nicht gesagt. Sie hat keine Ahnung, ob er wirklich Anthropologie studieren möchte, und falls ja, hat ihn Traurige Tropen davon überzeugt, nicht ihr Bruder. Und trotzdem kann sie nicht anders, als einen Hauch von Befriedigung zu spüren, als sie sieht, wie Davids Ausdruck sich verändert.
    »Das gibt’s doch einfach nicht«, ruft Cathy plötzlich. Frustriert stellt sie das Breigläschen ab und legt den Löffel daneben. »Ich krieg sie einfach nicht dazu, etwas zu essen.«
    »Was erwartest du?« David nimmt das Gläschen und betrachtet es skeptisch. »Bio-Erbsenbrei? Den würde ich auch nicht essen. Sie weiß eben, was gut ist, das ist alles.« Er steht auf und hebt Isabelle aus ihrem Hochstuhl. »Na, meine Süße, möchtest du vielleicht lieber ein paar knusprige Spareribs?«
    »Oh David, bitte!« Cathy wirft ihm einen Blick zu und verdreht dabei die Augen.
    »Ich hab doch nur Spaß gemacht. Aber wie wäre es mit Eis? Eis kann sie doch essen, oder? An Eis ist rein gar nichts auszusetzen – und wir haben sogar noch welches da.«
    »Und ob es an Eis etwas auszusetzen gibt«, schimpft Cathy.
    »Aber schmecken würde es dir, stimmt’s?« Er lässt Isabelle über seinem Kopf schweben, während er mit ihr spricht. »Oh ja, ich weiß jetzt schon, dass du eines Tages ganz verrückt nach Schokoladeneis sein wirst. Jetzt sei nicht so«, sagt er an Cathy gewandt. »Wäre doch witzig zu sehen, ob sie es mag.«
    Willow ist nicht wirklich eifersüchtig auf ihre Nichte, und sie wünscht sich definitiv nicht, dass ihr Bruder wie mit einem Kleinkind mit ihr spricht. Aber als sie David mit Isabelle spielen sieht, als sie sieht, wie sein Gesicht endlich aufleuchtet, wird ihr zum ungefähr tausendsten Mal klar, dass sie ihren Bruder verloren hat.
    Willow schiebt den Bulfinch lustlos zur Seite. Es ist ein Uhr morgens, und obwohl sie seit vier Stunden an ihrem Schreibtisch sitzt, hat sie so gut wie nichts zustande gebracht. Schlafen kann sie auch nicht, dafür ist sie zu unruhig, und außerdem ist sie halb verhungert, was allerdings kein Wunder ist, nachdem sie beim Abendessen kaum etwas angerührt hat.
    Vielleicht sollte sie nach unten gehen und irgendetwas essen, vielleicht könnte sie sich dann auf ihre Hausaufgaben konzentrieren. Sie steht auf, geht zur Tür und öffnet sie einen Spaltbreit. Es ist stockdunkel in der Wohnung. Sie schleicht sich die Treppe runter, ganz vorsichtig, um ja niemanden zu wecken. Doch als sie fast unten ist, stellt sie erschrocken fest, dass sie nicht die Einzige ist, die noch wach ist. David sitzt am Küchentisch, umgeben von mehreren Stapeln mit Arbeiten, die er korrigiert. Er hat bis auf eine kleine Lampe alle Lichter ausgemacht.
    Jetzt will sie lieber doch nicht mehr in die Küche. Sie kann sich nur allzu gut vorstellen, wie unangenehm es für sie beide wäre, sich jetzt zu begegnen. Aber so gerne sie sich unbemerkt wieder nach oben verdrücken würde, sie kann einfach nicht aufhören, ihren Bruder anzustarren. Irgendetwas an der Art, wie er dasitzt, ist seltsam.
    David hat den Kopf in den Händen vergraben. Lacht er vielleicht? Aber worüber sollte er lachen? Sie hat ihn schon oft genug über die Arbeiten von Studienanfängern stöhnen hören, um zu wissen, dass ihm das Korrigieren keinen besonders großen Spaß machte. Außerdem gibt er kaum einen Laut von sich. Und dann wird Willow klar, warum seine Schultern beben, und der Grund dafür ist so erschreckend, so verstörend, dass es ihr förmlich die Kehle zuschnürt. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten.
    Ihr Bruder weint. Er weint still und doch zutiefst verzweifelt. So hat sie ihn noch nie gesehen. So hat sie noch nie irgendjemanden gesehen. Diese nackte Verzweiflung macht ihr Angst.
    Sie greift mit zitternder Hand nach dem Treppengeländer und setzt sich auf eine der Stufen. Sie weiß, dass das, was sie tut, nicht richtig ist, dass sie Davids Privatsphäre verletzt. Aber sie kann den Blick einfach nicht abwenden.
    Gebannt beobachtet sie ihn. Das könnte sie niemals, sie könnte ihrer
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