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Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Titel: Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Autoren: Vladimir Ulrich
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das G e setz. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. [85] Ich bin, der da ist, ich bin alles. Ihr kennt mich nicht. Meine B o ten vielleicht - den stotternden Josef, die struppigen Propheten, meinen Sohn. Ich kann mich euch nicht anders mitteilen. So seht und denkt nach, dies ist mein Werk, wacht auf und erkennt.“
    Immer noch mit der Wolkenkrone geschmückt, berührte das Gestirn die Kimm. Fast konnte man diese Berührung spüren, es ging eine Bewegung durch die Re i hen. Die bis dahin silberne Fläche des Ozeans verfärbte sich. Um den Felsen herum und hinter den Segelboten zerfiel sie in Tausende Diamanten. Während die glühende Scheibe ins Meer sank, streckte sie uns ihre rote Zunge aus. Was orange war, wurde rot, was golden, orange, was silbern, zum Gold. Schatten ho l ten aus. Unmerklich, doch stetig stieg die Spannung, die Konzentration, fast ins Unendliche. Der Herr selbst ging vorbei, um die Wirkung zu besehen. Er schien zufrieden. Dieses Ereignis traf jedes Herz, das des Christen und das des Heiden. Hier blieb kein Auge trocken. Hier erkannte der Mensch den Schöpfer. Als die ersten römischen Legionäre im Jahre 136 vor Christus hier ankamen und eben dieses Bild sahen, habe sie angeblich eine solche Furcht und Panik ergriffen, daß sie gar flüchten wollten. [86] Durchaus vorstellbar. Schon vor dreieinhalbtausend Jahren verehrten die Kelten diesen Ort als heilig, und wer weiß, wer noch zuvor. Wir sind nur die letzte Zivilisation von vielen. Die uns bekannte Geschichte geht bestenfalls fünftausend Jahre zurück. Für die hunderttausend Jahre davor fehlt das Zeugnis.
    Die geschmückte, glühende Sonne glitt nun in einem Funkengestöber zischend ins Meer. Anfangs langsam, dann immer schneller, bis nur der letzte strahlende Zipfel herausragte. Der allerletzte Gruß. Schwer vorstellbar, daß sie gerade in diesem Augenblick neu geboren am anderen Ende der Welt aus dem Wasser stieg. Gleich mächtig, gleich schön, gleich unbegreiflich. Der letzte Strahl ließ die Wolkenkrone kaminrot aufleuchten. Aus Klüften der Felsen stieß die Du n kelheit hervor, mystische Schatten, die sich dort tagsüber vor dem Licht verba r gen. Nun waren sie frei, jagten über dem Wasser der Sonne nach, von der nur noch ein hellblaurosa Streifen ganz hinten am Horizont übrig blieb. Das Leuch t feuer über unseren Köpfen stieß mit lautem Klack den ersten Strahl aus, und das rotierende Licht zündete nach und nach alle Sterne an. Alles stand still und e r griffen in der Dunkelheit unter dem Sternenzelt, das Leuchtfeuer kehrte am Himmel die Nischen aus.
    Es war vollendet, nichts ging mehr. Der Augenblick der Eklipse war vorbei. Z ö gernd begangen sich die Menschen zu rühren, verhaltene Ausrufe stiegen auf. Aus einer unsichtbaren Ecke kam ein scharfer Gestank rüber. Der Tradition nach zündete man hier am Kap seine Schuhe oder andere symbolische Gegenstände an. Die heute freilich meist aus Plastik sind und brennend ziemlich scharf ri e chen. Davon abgeschreckt überlegte Simon, was er am besten dem Feuer opfern könnte. Ich schlug ihm sein maghrebinisches Haargeflecht vor. Wollte er es s o wieso nicht zu Haus abnehmen lassen? Hier und jetzt wäre es als lebensergre i fende Zäsur bedeutend genug. Bestimmt noch besser als ein paar Socken oder der Büstenhalter. Er zog dies in Betracht. Ich weiß nicht, wie er sich entschloß, ich ging. Ich hatte, was ich wollte. Verbrennen wollte ich hier nichts, ich hielt es für einen Aberglauben. Und ich wollte über das Gesehene meditieren, bevor es verblaßt war. Wie die Piefkes sagen: Jeder nach seinem Geschmack. Aber ich war nicht allein. Etliche andere stiegen nun raschen Schrittes vom Berg hinu n ter. Manche diskutierend, manche schweigend. Praktische Dinge kamen auf. Was mit dem angebrochenen Abend anfangen, wohin essen gehen, wann mo r gen zum Bus aufstehen. Ich kehrte zurück in die übervolle, stickige Herberge und legte mich bei vollem Licht und Lärm schlafen. Was sonst hätte ich noch tun können?
    Doch, ich hatte noch was, und das tat ich gleich am nächsten Tag vor der Abre i se. Hatte ich denn nicht einen Pilgerstab, den es einzupflanzen galt. Damit ihn der Herr aufblühen und zu einer mächtigen Eiche wachsen ließe? Wie konnte ich es nur vergessen haben? Nach dem Frühstück im Café am Hafen, denn in der Herberge konnte man wieder einmal nichts kochen, stieg ich den Weg entlang der Klippe hoch, um einen passenden Platz dafür zu
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