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Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Titel: Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Autoren: Vladimir Ulrich
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katalanische Separatisten und davor noch die Franco-Diktatur hinter sich und fanden vielleicht gar Freude daran, sich von irgendwelchen Haderlumpen durchsuchen und herumschicken zu lassen. Mir war allerdings nicht danach. Schon seit dem Bombenanschlag auf das World-Trade-Center und der überall aufkommenden Schnüffelei mied ich alle Flüge. Und als es sich einmal nicht vermeiden ließ, vergaß ich prompt ein recht teueres Messer in der Tasche, das mir von einer liebenden Person geschenkt wurde, und das ich deshalb nicht wegwerfen wollte und somit gleich durch mehrere solche Kontrollen schmuggeln mußte, was letzten Endes auch nicht so schwierig war, dennoch nichtsdestotrotz recht gefährlich, weil die frustrierten Kontrollfritzen mangels waschechter Terroristen das normale Volk in Sippenhaft nehmen. Und wer einmal in der verkehrten Computerdatei steht, der hat ausgespielt. Es ist auch unklar, warum am Flughafen und am Bahnhof kontrolliert wurde, jedoch nicht im Busterminal, aber es hätte nur dessen bedurft, daß ich zu Fuß gegangen wäre. Vielleicht hat man diese Sicherheitslücke längst geschlossen, ich jede n falls entkam noch unerkannt, und nur ich weiß, was ich da in den Taschen trug. Oder ich bilde mir es naiv nur ein, und die dunkle Macht, die hinter der stra h lenden Fassade der Demokratie lauert, warf längst ihr klebriges Netz über mich und mein Tun.
    So kam ich also erneut in die Apostelstadt, quartierte mich wieder in dem mir inzwischen vertrauten Priesterseminar ein und hatte noch reichlich Zeit, nach der großartigen Stimmung der ersten Ankunft hier zu suchen. Es gelang mir nicht. Ich absolvierte die Kathedrale, die Gassen der Altstadt, sah den Menschen zu, mußte aber am Ende erkennen, daß die kostbare Zeit, die ich beim ersten Mal erlebte, nicht wiederholbar war. Santiago ist wohl doch keine stete Quelle der Beglückung, sie ist es einmalig nur für den ankommenden Pilger und vie l leicht auch nicht für jeden von ihnen. Das gab mir zu denken, und ich tat es am Fenster im Refektorium des Priesterseminars, dessen Ausblick allezeit großartig blieb. Dort saß ich bis zum letzten Augenblick, als es schon Zeit war, zum Bu s bahnhof zu gehen. Dies war wirklich der Abschied, vermutlich sollte ich nie mehr hierherkommen, hier war die Pilgerreise vorbei. Von nun an mußte ich nicht mehr bei jedem Wetter mehrere zig Kilometer am Tag laufen, jeden Abend meine ganze Kleidung waschen, und mein gesamter Besitz sollte nicht nur zwölf Kilo wiegen. War es nun gut oder schlecht? Die Sorgen des anderen Lebens, das ich hinter mir ließ, drängten nach. Noch konnte ich sie vertreiben, noch war ich nicht daheim, aber sie waren da, und einmal in einer nicht mehr fernen Zeit mußte ich mich ihnen stellen. Also, vielleicht doch lieber nach Rom ziehen? Hätte es die Stadtkulisse vor mir nicht gegeben, die Spannung hätte mich zerri s sen.
    Ich führte mein letztes Gespräch mit dem Herrn. Ich hatte ihm zu danken, weil er für mich auf dem langen Weg sorgte, mich vor Unglück und Gram behütete, mir den Weg wies, mir Hoffnung und Zuversicht gab, mir gute Menschen z u führte, mich Weißheit und Demut lehrte. Wo stünde ich denn als Mensch ohne diese Pilgerschaft? Der weite Raum vor mir und der Raum meiner Seele ve r schmolzen, doch konnte ich die Güte des Herren, die ich erfahren habe, darin nicht ganz erfassen. Immer fand ich noch mehr, oft kleine, vergessene Details, wofür ich ihm Dank schuldete. Einiges gab es noch zu hinterfragen, ich hatte die Schmerzen, die kranken Tage, die ich unterwegs erlebte, zu bewerten und ei n zuordnen. Auch sie gehörten dazu. Wie stand ich zu ihnen, und wo war der Herr, als ich litt? Das Leiden war freilich längst vorbei, fast schon vergessen, aber die Frage war legitim. Andere stellten sie vor mir: „ Herr, als ich anfing, dir nachz u folgen, da hast du mir versprochen, auf allen Wegen bei mir zu sein. Aber jetzt entdecke ich, daß in den schwersten Zeiten meines Lebens nur eine Spur im Sand zu sehen ist. Warum hast du mich allein gelassen, als ich dich am meisten brauchte? Und die Antwort? „ Dort wo du nur eine Spur gesehen hast, da habe ich dich getragen.“ [87] Manchmal stößt man auf eine Frage und sucht vergebens lange Jahre nach der Antwort, findet sie vielleicht nie, verzweifelt daran. Ich fand die Frage und die Antwort in einem Glaskasten vor einer Kirche. Ein sel t sames Ding war das. Einst war ich frei und stark, fürchtete weder Mensch noch Gott, stürmte nach vorn,
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