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Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Bis an das Ende der Nacht (German Edition)

Titel: Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Autoren: Christopher Coake
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lächelt und grüßt, während sie nur verschämt nickt wie ein Mauerblümchen beim Abschlussball. Mehr Rückgrat!, befiehlt sie sich dann, und manchmal befiehlt sie es sich auch beim Laufen, um sich anzutreiben, um Joan einzuholen, um mehr Luft in ihre Lunge zu pressen.
    Der See liegt neben einer Autobahn mit zwei Trassen; um ihn zu erreichen, biegen sie von der Straße ab, parken auf einem kleinen Parkplatz auf der anderen Seite und gehen dann auf einem breiten betonierten Fußgängerweg unter der Autobahn durch. Natalie hat diesen Weg nie gemocht; die Brücke sieht von unten instabil aus, die Straße und die Autos wirken zu nah. Der Beton schwankt und hallt, und sie ist sich der Tonnen von Stahl bewusst, die nur wenige Meter über ihrem Kopf dahinrasen, und wenn sie durch die sonnige Lücke zwischen der Nordund der Südtrasse geht, duckt sie sich immer ein bisschen, so als müsste jeden Moment irgendetwas Grauenhaftes von der Fahrbahn auf den steten Strom von Joggern, Radfahrern, Kindern und Hunden hier unten herabgestürzt kommen.
    Aber heute denkt sie an nichts dergleichen, als sie und Joan unter der Brücke durchgehen. Es ist ein schöner Junitag, nicht zu heiß, nicht zu schwül, und Natalie freut sich aufs Laufen. Sie ist aufgekratzt, beinahe zapplig – in ihrem Kopf hat nichts anderes Platz als der Gedanke an das Aufwachen heute Morgen: an Joans Küsse auf ihrer Schulter, Joans kühle Handfläche an ihrem Bauch und den frohen, geheimnisvollen Ausdruck in Joans Augen, bevor sie es ihr gesagt hat.
    Sie sind unter der Brücke, und Nat sagt zu ihr: Heute lauf ich dir davon.
    Joan berührt sie kurz am Rücken. So leicht wirst du mich nicht los.
    Und in dem Augenblick passiert es.
    Von oben ein Kreischen, Reifen auf Asphalt, und dann ein Aufprall, dass hier unten alles zittert und dröhnt. Es sind etwa fünfzehn Menschen unter der Brücke; Nat duckt sich, sieht die anderen zusammenzucken, die Köpfe einziehen. Dann neuerliches Bremsenkreischen, gefolgt von einem zweifachen grässlichen Aufprall, und Nat, die geradeaus schaut, auf den sonnigen Spalt zwischen den Fahrbahnen, sieht eine Puppe von der Straße fallen, eine Puppe, die gegen einen Betonpfeiler der Nordtrasse prallt und schwer in das Gras und die Abfälle neben dem Weg plumpst, keine zehn Meter von Nat entfernt.
    Einen Moment lang Totenstille, und dann geht ein Murmeln durch die Menschen unter der Brücke. Alle schauen sie hoch zu der Straße über ihren Köpfen. Heilige Scheiße, sagt Joan.
    Nat starrt auf die Puppe. Hat niemand sonst sie gesehen? Sie wirft noch einmal einen Blick auf den Betonpfeiler, weil da etwas anders ist als vorher; sie will sichergehen, dass sie sich nicht täuscht. Nein. Wo die Puppe gegen den Beton geprallt ist, hoch oben, ist ein kleiner rostroter Schmierer, wie -
    Ihre Fingerkuppen werden taub. Einen Sekundenbruchteil wundert sie sich über sich selbst – warum schreit sie nicht? Sollte nicht jemand schreien? Aber niemand sonst hat es gesehen. In die anderen kommt jetzt Bewegung. Jemand lacht, nervös; ein Mann mimt einen Herzanfall, taumelt mit an die Brust gepressten Händen rückwärts. Joan läuft ein paar Schritte vor, hinaus in das Sonnenlicht, und späht nach oben, die Hand über die Augen gelegt. Nat wendet sich von ihnen ab, Rauchgeruch in der Nase.
    Sie verlässt den Weg, steigt über alte Regenpfützen, über Grasbüschel. Sie hört ihren Atem. Sie will nicht schauen, will keinen Schritt weitergehen, aber sie weiß, sie muss, denn wenn sie den Mund aufmacht – um Joan Bescheid zu sagen, ganz egal wem -, wird sie schreien, und das darf nicht sein. Vielleicht lässt sich irgendetwas tun, irgendwelche Hilfe leisten, und außer ihr weiß es doch keiner.
    Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen in einem kleinen blauen Kleid. Es hat dünne blonde Haare, seidiges Kinderhaar, vom Luftzug zerzaust. Vielleicht ein Jahr alt, höchstens anderthalb. Das sieht Natalie auch aus ein paar Metern Entfernung; das Kind ist zu klein, älter kann es nicht sein. Es liegt bäuchlings im Gras, den Kopf zur Seite gedreht, weg von Natalie. Das blaue Kleid ist zerrissen, Hüfte und Gesäß schauen blass daraus hervor. Eine Windel, verrutscht. Das eine Bein ist abgewinkelt und zeigt vom anderen weg. Nat geht um das Mädchen herum, leicht stolpernd auf dem unebenen Boden. Sie drückt die Hand an den Mund, aus dem sie ein dünnes Geräusch empordrängen fühlt, denn nun sieht sie die Glassplitter in dem feinen blonden Haar, sieht – Schmerz in der
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